Das geheime Lied: Roman (German Edition)
vorkommen musste, und liebte sie deshalb umso mehr. Gemeinsam verbrachten sie die Nacht zwischen Balken und Tauben in der Mansarde des Hauses. Jetzt konnte Frankreich ihnen nicht ferner sein, sie versanken zwischen den Spinnweben, durch die sie wie durch eine Himmelstür die Strände von Madagaskar erreichten, wo Luna niemals die Luft ausgegangen war, ganz anders als in Paris, wo ihr die Lunge mit jedem Atemzug schmerzte. Sie küssten sich, als wäre es das letzte Mal, und tauchten zwischen Korallen. Matthieu ergriff von ihr Besitz wie die Wellen eines wilden Ozeans, das Stroh der Mansarde klebte an ihren Schenkeln wie der Sand, auf den sich der Schaum ergoss, und ihre Rufe der Lust erklangen zugleich, als das einzige Stöhnen außer dem ihren von einem zu früher Stunde in Gang gesetzten Brotbackofen stammte.
Am nächsten Morgen hüllten sich Luna und er in Umhänge, bevor sie aus der Tür traten. Vor dem Haus des Schreibers wartete eine Kutsche auf sie, um sie nach Versailles zu bringen.
»Bevor wir Paris verlassen, müssen wir noch einmal Halt machen«, teilte Matthieu dem Fuhrmann mit.
Schützend umfasste er Lunas Hände.
»Auf dem Schiff hast du mich doch gebeten, deine Muschel für dich aufzubewahren.«
»Ja?«
Er zog das Schneckenhaus aus dem Lederbeutel, den er über der Schulter trug.
»Ich werde sie in die Obhut von jemandem geben, der sie viel besser beschützen kann als ich.«
Luna nickte bloß, ohne Fragen zu stellen.
Sie hielten vor der Residenz von André Le Nôtre, Nathalies Onkel. Der Gartenbaumeister lebte mit seiner Familie in einem abgelegenen Winkel der Tuilerien. Er besaß auch eine Villa in Versailles, bevorzugte aber die Ruhe dieses diskreten kleinen Palastes zwischen Blumen und Bäumen. Obwohl er der einzige Mensch war, dem der König seine persönlichen Sorgen anvertraute, vermied Le Nôtre nach Möglichkeit das prunkvolle und ebenso aufreibende Leben bei Hofe.
Matthieu stieg aus der Kutsche und blieb einen Augenblick vor der Eingangstür stehen. Er war zum ersten Mal hier, jetzt hatte er jedoch nichts mehr zu befürchten. Vor Le Nôtres Reaktion hatte er ohnehin keine Angst, er wollte aber vor allem Nathalie nicht wehtun. Während der zwei Jahre ihrer Freundschaft hatte er immer gedacht, dass er durch eine Heirat mit ihr nicht nur zum Ehemann der schönsten Frau Frankreichs und Nutznießer aller Vorteile einer Verwandtschaft mit ihrem Onkel werden würde, sondern auch ihr damit einen Gefallen täte. In Wirklichkeit war es allerdings Nathalie gewesen, die ihn hatte beschützen wollen. Jetzt wusste er, dass zwischen ihnen etwas Magisches war, ihre Verbindung weit über das hinausging, was andere Menschen sahen, ihm war aber auch klar, dass sie sich nie geliebt hatten. Zumindest nicht so wie die Figuren in einer Oper.
Er atmete tief durch und klingelte. Eine Bedienstete öffnete ihm mit ausdrucksloser Miene. Aus dem Nebenraum erkannte Nathalies Begleiterin Isabelle seine Stimme und kam rasch zu ihm heraus. Sie wartete nicht einmal ab, bis das Dienstmädchen sie allein gelassen hatte, um ihn zu umarmen.
»Matthieu!«
»Isabelle!«
»Ich konnte es kaum glauben, als ich deine Stimme gehört habe!«
Er musterte sie von oben bis unten: dieselben straffen Brüste im engen Mieder, die einst Jean-Claude zu erobern versucht hatten, dasselbe lustig zerzauste braune Haar.
»Es freut mich so, dich zu sehen«, erklärte er von ganzem Herzen. »Und auch, dass du noch hier arbeitest!«
»Um nichts in der Welt würde ich Nathalie alleinlassen!« Sie sah ihn einen Augenblick an und wurde dann ernst. »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Nach den Vorfällen in der Orangerie wussten wir nicht, ob du in der Bastille ums Leben gekommen warst oder man dich freigelassen hatte …«
»Ich war fort, musste Frankreich verlassen. Bald werde ich euch alles erzählen können.«
Nun musterte ihn Isabelle ebenfalls eingehend.
»Der Bart gefällt mir«, flüsterte sie und nahm so dem Augenblick die Anspannung.
»Ist sie …«
»Oben, in ihrem Zimmer.«
»Geht es ihr gut?«
»Du hättest nicht einfach so verschwinden sollen, ohne Bescheid zu sagen«, bemerkte sie ohne Groll.
»Ich weiß.«
»Komm mit!«
Isabelle nahm ihn bei der Hand. Im Türrahmen blieb Matthieu stehen.
»Eigentlich würde ich lieber erst mit Monsieur Le Nôtre sprechen. Ich möchte nicht riskieren, ihn zu verärgern, indem ich ohne Vorankündigung sein Haus betrete.«
»Mach dir darüber
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