Das geheime Lied: Roman (German Edition)
vertan, Jean-Claudes Mörder verhören zu können. Matthieu wäre beinahe abgerutscht, da trat der Schankwirt hinaus auf das hölzerne Sims und setzte das Seil des Lastenzugs in Bewegung.
»Halt dich daran fest«, rief er, bevor er ihm das Tau herüberwarf.
Matthieu bahnte sich seinen Weg durch die Taverne. Die Gäste traten zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Der junge Mann war am Boden zerstört. Auf der Brücke kam ihm sein Onkel entgegen.
»Wir werden die Drahtzieher niemals finden!«, schluchzte der Geiger, während er Charpentier in die Arme fiel.
»Matthieu …«
Ihn erstaunte die zufriedene Miene des Komponisten.
»Was ist los?«
»Da war noch ein weiterer Mann.«
Sein Neffe riss die Augen auf.
»Und ist er am Leben?«
»So gesund und munter wie du und ich. Er stand an der Tür Schmiere und hat nicht einmal Widerstand geleistet, als ihn die Männer des Präfekten überraschten.«
Als sie die Treppe hinaufrannten, kamen ihnen die Polizisten entgegen, die die Leichen der toten Angreifer abtransportierten. Im Zimmerchen oben saß Newton auf demselben Stuhl, den man ihm entgegengeschleudert hatte, und kümmerte sich um seinen Ellbogen, an dem er sich eine Verletzung zugezogen hatte. Überall lagen Glassplitter, und der Raum war von einer Mischung verschiedenster Gerüche erfüllt: Es stank nach Pulver, nach den Substanzen aus Newtons Destillierkolben, den Schwaden, die aus den Werkstätten der Handwerker herüberzogen, und dem Wasser des Kanals. De la Reynie hatte bereits damit begonnen, den Festgenommenen zu befragen. Es handelte sich um einen Mann von etwa vierzig Jahren, dessen Gesicht von einem früheren Hautausschlag entstellt war.
»Er besteht darauf, dass sie nur gekommen sind, um hier eine Partitur zu stehlen«, erklärte der Polizeipräfekt betont routiniert. »Ihr wisst vermutlich, wovon er spricht.«
»Wer hat ihm den Auftrag dazu erteilt?«, fragte Matthieu.
»Dazu will er nichts sagen.«
»Ich komme doch nicht einmal aus Paris«, verteidigte sich der Gefangene. »Ich kenne hier niemanden!«
Der Polizist schlug ihm ins Gesicht.
»Lügner!«
»Unser Anführer hätte Euch dazu etwas sagen können, aber Euretwegen liegt er nun mit gebrochenem Genick unten auf dem Kai!«
Wieder sausten die Fäuste nieder.
»Willst du etwa behaupten, dass du die Person, die euch bezahlt, noch nie gesehen hast?«
»Unter dem Umhang von Kopf bis Fuß war wenig zu erkennen, wegen der vornehmen Ausdrucksweise würde ich aber auf jemanden aus dem Adel tippen.«
»Aus dem Adel …«, murmelte de la Reynie zufrieden. Er hoffte jetzt schon darauf, dass die Auflösung dieses Falles ihm womöglich zu noch größerem Ruhm verhelfen würde als die Giftmorde der Marquise de Brinvilliers. »Ich will einen Namen!«, drängte er.
»Ich habe Euch doch schon gesagt, dass ich sie nicht kenne!«
»Moment mal …«, mischte Matthieu sich ein.
»Was ist?«
»Er hat ›sie‹ gesagt.«
»Was sollte ich denn sonst sagen?«, antwortete der Gefangene nun wieder überheblich. »Sie trug zwar diesen Mantel mit Kapuze, aber ich versichere Euch, dass ich eine Frau trotzdem erkenne, wenn ich sie vor mir sehe.«
Dieses Mal fuhr ihm der Polizeipräfekt mit dem Handrücken übers Gesicht. Matthieu begann zu grübeln.
»Kann das denn wirklich wahr sein …«
»Hast du irgendeine Idee, um wen es sich handelt?«, fragte ihn sein Onkel.
»Eine Alchemistin?«, rief der Wissenschaftler spöttisch aus.
Der junge Musiker blickte Charpentier an. Und dann Newton. Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Schließlich nannte er doch lieber keinen Namen und wandte sich stattdessen an den Gefangenen.
»Für wann ist das nächste Treffen mit dieser Frau geplant?«
»Sie hat uns morgen für den Zeitpunkt der Prozession in Saint-Germain-des-Prés zum neuen Säulengang bestellt. Dort soll die Übergabe stattfinden – die Partitur gegen unser Geld.«
Matthieu wandte sich nun an den Präfekten.
»Ich will mich nicht in Eure Arbeit einmischen«, begann er behutsam, »aber ich möchte vorschlagen, dass wir ihn gehen lassen, damit er sich mit dieser Dame treffen kann.«
»Und wir sollen ihm dabei folgen?«
»Genau.«
»So einfach ist das nicht. Bei der Prozession wird es ebensolche Menschenmassen geben wie hier auf der Brücke. Wenn wir zu großen Abstand halten, könnte er uns entwischen, wenn wir hingegen nahe an ihm dranbleiben, wird die Frau es merken und das Treffen abbrechen.«
»Es genügt doch, wenn er sie uns zeigt.«
»Für eine
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