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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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morgendlichen Routine folgten einem strengen Protokoll, das der Herrscher selbst eingeführt hatte, damit die Adligen beschäftigt waren und nicht gegen ihn intrigierten. Im Vorzimmer stritten diese sich nun um das Privileg, ihn mit Rosenwasser zu benetzen, ihm sein Rasierzeug zu reichen oder ihm die Beinkleider überzustreifen, während er zwei Tassen Kräutertee schlürfte. Es handelte sich um die wenigen Augenblicke der Vertraulichkeit mit dem Herrscher, auf die ein Edelmann je hoffen konnte, daher nutzen die Höflinge sie, um Bitten im Namen ihrer Familien vorzutragen.
    König Louis band sich wie immer selbst die Krawatte, was ihn mit großer Genugtuung erfüllte, und wählte zwei Tücher aus, während der königliche Uhrmacher ihm einen zauberhaften, frisch gestellten Zeitmesser darbot.
    »Ich darf meine Berater nicht warten lassen!«, rief der König aus und schob sich durch die Menge.
    Er machte sich auf den Weg zu seinem Arbeitszimmer, Louvois fing ihn jedoch unterwegs ab.
    »Was tut Ihr hier? Ich dachte, Ihr würdet mit den anderen auf mich warten.«
    »Hätten Eure Majestät wohl die Güte, mich zu begleiten?«
    »Und die Besprechung?«
    »Die Besprechung kann warten«, entgegnete Louvois vorsichtig.
    »Wie könnt Ihr es nur wagen, so mit mir zu sprechen?«
    »Der junge Mann aus der Orangerie ist zurück«, war alles, was der Minister sagen musste.
    Über die Freitreppe des Cour du Dauphin eilten sie hinunter zu einem Vorzimmer im Erdgeschoss. Eine mit Blümchenstoff bezogene Wand verbarg in einer Ecke eine der Geheimtüren des Schlosses. Sie führte zum weitläufigen Netz aus Kellern unter dem Palast und den angrenzenden Gartenflächen. Vor der Tür patrouillierten vier Wachen der Schweizergarde, die den Befehl hatten, jeden zu erschießen, der sie ohne Erlaubnis des Ministers oder des Königs selbst zu durchschreiten versuchte. Die beiden Männer schüttelten zwei Pagen ab, die mit Kandelabern herbeigeeilt kamen, und stiegen in das tiefste und unbekannteste Versailles hinab. Der Gang wurde von Kerzen erleuchtet, von denen auf jeder Treppenstufe eine mit ihrem eigenen Wachs festgeklebt worden war. Unten angelangt, teilte sich der Gang in zwei langgezogene Gewölbe. Sie durchschritten das rechte und erreichten schließlich ein quadratisches Gelass.
    Es war eine alte Speisekammer aus der Zeit, bevor die Palastküchen in ein eigenes Gebäude umgezogen waren. Hier hatte man früher Unmengen von Lebensmitteln für die Bankette bei Hofe gelagert. Noch immer lagen leere Körbe und Ölkrüge herum, und an einer Wand lehnte ein Regal voll verstaubter Flaschen. Im hinteren Bereich gab es einen Durchgang zu einem kleineren Raum, der wie eine Zelle wirkte. Darin hingen mehrere Haken, an denen man Fleisch zum Trocknen befestigen konnte, und das einzige Licht stammte von einem vergitterten Fensterchen auf Deckenhöhe, durch das schwache Sonnenstrahlen hereinfielen. Unter einem Bogen befand sich in einer Wand des Zimmerchens eine Nische mit einer Pritsche. Zweifellos hatte hier früher der für die Speisekammer zuständige Küchenmeister gehaust, und es war anzunehmen, dass so mancher Edelmann in diesen oder einen anderen der Kellerräume hinabgestiegen war, um bei den tagelangen Feierlichkeiten in Versailles vor dem nächsten Festmahl für ein paar Stunden zu ruhen.
    Newton, Charpentier und Matthieu, der kurz zuvor eingetroffen war, verneigten sich tief vor ihrem Herrscher.
    »Meine Speisekammer als Labor …«, murmelte der König und ließ den Blick über die Vorrichtungen wandern, die der Engländer aufgebaut hatte.
    Er betrachtete aus nächster Nähe den Destillierkolben mit zwei Hälsen, den Athanor – einen rechteckigen Ofen, den Newton selbst nach den Angaben aus Büchern entworfen hatte: vier Fuß lang, drei Fuß breit und mit Wänden in der Dicke eines halben Fußes –, die Kohlen, mit denen der Wissenschaftler eine genaue Kontrolle der Temperatur sicherstellte, und den von der Decke hängenden Blasebalg. Er warf einen Blick in eine offene Truhe, in der sich Becher, Mörser, Töpfe, Zangen und eine kugelförmige Retorte stapelten, und wandte sich dann wieder an seine Gäste. Bald würde seine Fantasie also in Erfüllung gehen! Alles lag zum Greifen nah: grenzenloses Wissen, unendliche Macht.
    »Du hast es also geschafft!«, sagte er zu Matthieu.
    Damit gab er sich ungewöhnlich zwanglos. Alle wussten, wie unberechenbar die Launen des Souveräns waren, sie konnten aber nicht begreifen, welch seltsame Wirkung

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