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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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den höchsten Glanz des Königssterns zurückwerfen würden.
    »Ich will meine Gäste blenden!«, rief der Herrscher aus, während er in Begleitung seiner Helfer die mehr als siebzig Meter des Saals ablief. »Ich will, dass sie sich im Angesicht göttlichen Leuchtens wähnen!«
    Auf halbem Wege traf er Le Brun, seinen Lieblingskünstler und den Schöpfer der Deckenmalereien.
    »Majestät …«, grüßte dieser mit einer Verbeugung.
    Der König sah nach oben.
    »Mein lieber Le Brun, Ihr seid meiner wirklich würdig. Euer Pinsel hat nicht nur ein unschätzbares Kunstwerk erschaffen, sondern ein wahres Vermächtnis.«
    »Euch zu Ehren, Majestät.«
    Und so war es wirklich. Die Motive, die der Maler ausgewählt hatte, unterstrichen die politischen und künstlerischen Errungenschaften der Herrschaft Ludwigs XIV . Selbst die Marmorsäulen, die das Gewölbe trugen, waren mit vergoldeten Bronzekapitellen geschmückt, die durch ihre Symbole Nationalbewusstsein heraufbeschworen: eine von zwei Hähnen eingefasste Wappenlilie unter dem aufmerksamen Blick der göttlichen Sonne.
    Die Säuberungsarbeiten waren fast beendet. Der Architekt, Jules Hardouin Mansart, ließ das Gerüst abbauen. Eine Heerschar von Arbeitern erklomm die Elemente, die noch standen, und setzte ihr Leben aufs Spiel, um in jeder Vertiefung der Kapitelle auch noch das winzigste Staubkorn zu entfernen. Monsieur Félibrien, der offizielle Hofchronist, machte sich bereits erste Notizen. Er beschrieb jedes in Versailles begangene Fest bis in kleinste Detail: die Anzahl der Kandelaber, die den Raum erleuchteten, wie viele Kerzen darin standen, welche Vorspeisen, Hauptgerichte und Kuchen aufgetragen wurden, welche Servierplatten des königlichen Geschirrs man dafür ausgewählt hatte, wie viele Pagen den Edelmännern Schalen mit parfümiertem Wasser reichten, damit sie sich die Hände waschen konnten, oder wie viele Pferde jede der zum Feuerwerk eintreffenden Kutschen zogen. Er informierte auch über künstlerische Neuerungen und schrieb jedes Wort nieder, das der König zu seinen Gästen sprach. Er war dafür verantwortlich, dass sich nicht nur ganz Frankreich, sondern sogar ganz Europa in Bewunderung für die Feiern des Sonnenkönigs erging. Schon von der ersten Zeile an ahnte Félibrien, dass die Enthüllung der Spiegel jede vorherige Festlichkeit hier in den Schatten stellen würde.
    Der Herrscher sah zum Fenster hinaus. Die Galerie verband zwei Flügel des Schlosses, sie ersetzte die alte Westterrasse und war sozusagen eine Ehrenloge mit Blick auf die riesigen Gärten.
    »Rührt so viel Perfektion nicht Euer Herz?« Er richtete die rhetorische Frage an Le Brun, während er die makellose Linie betrachtete, die der Latona-Brunnen, der Apollo-Brunnen und der Grand Canal bis zum Horizont bildeten.
    »Ihr verwandelt eben alles in Gold, was Ihr berührt, Majestät«, antwortete der Maler.
    Sein Kommentar ließ den König vor Schreck zusammenfahren, obwohl ihn Le Brun wohl ohne Hintergedanken ausgesprochen hatte. Der Künstler konnte ja nicht ahnen, was in den Kellerräumen vor sich ging, daher entsprangen seine Worte eher nur dem Zufall. König Louis verdrängte Newtons Destillierkolben aus seinen Gedanken und machte sich rasch, fast ohne ein Wort des Abschieds, auf den Weg in seine Gemächer. Dabei ließ er die Hand über die Tücher wandern, die die Spiegel verdeckten, jene Kostbarkeiten, die so viel Geld und Mühe gekostet hatten.
    Es hat sich zweifellos gelohnt, sinnierte er und versuchte, endlich ein wenig zur Ruhe zu kommen, indem er an den Moment dachte, in dem er sich selbst darin von Kopf bis Fuß betrachten würde, wie er es noch nie zuvor getan hatte.
    »Majestät, wartet!«, rief eine Stimme hinter ihm.
    Wer wagte es, ihn so anzusprechen?
    Erzürnt wandte er sich um, sein Gesichtsausdruck wurde jedoch augenblicklich wieder sanfter. Es war Maestro Lully. Ihm verzieh er alles und erst recht, wenn er wie in diesem Fall mit einer so sinnlichen Frau wie der Sopranistin Virginie du Rouge erschien. Leider begleitete die beiden auch ihr Ehemann, ein Kapitän seiner Leibwache, der als »der verrückte Gilbert« bekannt war.
    »Meine liebe Virginie!«, rief König Louis herzlich aus.
    »Majestät …«
    Der einstudierte Knicks troff nur so vor Unterwürfigkeit. Der Souverän küsste ihr die Hand.
    »Gilbert!«, begrüßte er den Kapitän. »Wie viele Jahre auch verstreichen, wenn ich Euch sehe, muss ich Euch jedes Mal dazu beglückwünschen, diese Nachtigall

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