Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Matthieu und begann zu rennen.
»Warte! Warum sollte er es sein? Das ist doch Wahnsinn!«
»Schnell!«, rief Matthieu, ohne sich umzudrehen. Eine eisige Klammer legte sich um seine Brust und schnürte ihm die Luft ab.
Völlig außer Atem erreichte er die Rue Saint-Antoine und überquerte die Straße. Beinahe hätte ihn ein Maultierkarren überfahren. Er rannte auf die Freitreppe von Saint-Louis zu. Ein Donnern zerriss die Luft, eine bleierne Wolkendecke, durchzogen von ockergelben Pinselstrichen, bedeckte den Himmel. Der Geiger schob sich durch die Neugierigen, die den Sterbenden umringten.
»Zur Seite!«
Es war wirklich Jean-Claude.
Sein Bruder.
Beinahe wäre er ohnmächtig über ihm zusammengebrochen. Jean-Claude lag merkwürdig verrenkt neben der Kirchentür, Hände und Füße waren ihm gebunden. Eine Blutspur ergoss sich über die fünf Stufen. Wie Matthieu von dem Mann mit dem Umhang bereits wusste, hatte man ihm die Finger abgeschnitten und ihm einige davon in den Mund gestopft, die anderen lagen auf seiner Brust verstreut. Außerdem hatte man ihm mit einem angespitzten Geigenbogen den Hals durchbohrt. Niemand wagte es, ihn anzufassen, da die Szene an ein altertümliches Ritual aus einem Buch über schwarze Messen erinnerte und sicher mit irgendeinem Fluch in Verbindung stand.
Matthieu kämpfte gegen das Entsetzen an, das ihn einige Sekunden lähmte, und kniete sich neben seinen Bruder. Er strich ihm das Haar aus den Augen. Er lebte noch! Jean-Claude erkannte ihn, und die Miene voller Angst und Unverständnis machte einem gebrochenen Ausdruck des Schmerzes und Leidens Platz. Jetzt hatte er jemanden, mit dem er weinen konnte. Er streckte seinem Bruder die fingerlosen Hände entgegen.
»Was haben sie dir nur angetan, mein Gott! Wer ist denn fähig, so etwas zu tun?«, würgte Matthieu schließlich hervor und brach mit seinem Bruder in Tränen aus.
Er schrie die Umstehenden an, doch Hilfe zu holen. Eine Dame, die sich ein Taschentuch vors Gesicht hielt, erklärte, dass sie bereits ihren Kutscher losgeschickt habe, um ihren Arzt zu verständigen. Matthieu unterdrückte den Brechreiz und zog seinem Bruder rasch die amputierten Finger aus dem Mund. Es war kaum zu glauben, dass Jean-Claude noch atmen konnte, das Blut sprudelte stoßweise aus seinem Hals.
Auf einmal entspannten sich seine Gesichtszüge, und Matthieu wusste, dass sein Bruder jetzt sterben musste und dass er sich unter all den Erinnerungen, die nun auf ihn einstürmten, für Töne und nicht für Bilder entscheiden würde. Er erweckte die Stücke für Streicher von Biagio Marini wieder zum Leben, die sie gemeinsam im Studierzimmer gespielt hatten – einer übernahm die Hauptmelodie, der andere umfing sie mit schmückendem Beiwerk –, und die Improvisationen zu jenem Volkslied, das die Bäuerinnen bei Nantes gesungen hatten, und die Messen seines Onkels Charpentier, von denen sie einige bereits interpretiert hatten, noch bevor die Tinte trocken war. In ihren letzten gemeinsamen Minuten spielten sie diese Stücke auf den Stufen von Saint-Louis noch einmal, ohne Geige, nur durch die Blicke, die sie tauschten.
In diesem Augenblick verschwand auf einmal die Menschenmenge, die sich – hin- und hergerissen zwischen Mitleid und morbider Neugier – um sie gescharrt hatte. Der bleigraue Himmel riss plötzlich auf und zeigte ihnen im unendlichen Blau zugleich Sonne und Sterne. Sie vernahmen die Trompeten des Paradieses, die in ihrem Universum der Töne den Höhepunkt bildeten, um ihren Abschied zu untermalen. Jean-Claude folgte der Musik. Ihre Melodie war ganz anders als alles, was Matthieu bisher gehört hatte, sie stammte aus keiner bestimmten Richtung und durchdrang mit ihrer Kraft alles, berauschte und erfüllte mit Liebe. War diese Musik vielleicht die göttliche Liebe in all ihrer Reinheit, von der Onkel Charpentier ihm an seinem fünften Geburtstag erzählt hatte? Hatte auch der sie womöglich eines Tages vernommen und war deshalb dazu in der Lage, so zu komponieren, wie er es tat? Er hätte gerne für immer hier verharrt und beneidete seinen Bruder darum, sich im Tode mit diesen einzigartigen Gesängen vereinen zu dürfen, doch er wusste, dass er jetzt die Augen schließen musste und dass Jean-Claude nicht mehr da sein würde, wenn er sie wieder aufschlug.
Und so war es auch. Abrupt kehrte Matthieu zur Blutlache auf den kalten Steinen der Kirchentreppe zurück. Die grau gekleidete Menschenmenge starrte ihn misstrauisch an. Er spürte, wie
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