Das geheime Lied: Roman (German Edition)
die Angst ihm fast die Kehle zuschnürte. Die Nacht brach über Paris herein, und ein Unwetter zog auf. Die ersten Regentropfen ließen ihn vollends zu sich kommen, und er fand sich auf Knien neben seinem toten Bruder wieder. Ein letztes Mal liebkoste er die weiße Stirn. Er hörte Husten und Gemurmel, das dumpfe Prasseln des Regens auf dem Pflaster. So schnell war alles vorbei? Er hielt sich die Ohren zu und schloss ganz fest die Augen, um sich erneut den magischen Tönen der Himmelshörner hinzugeben, doch es nützte alles nichts. Die Musik war verstummt, und mit ihr war die strahlende Seele seines Bruders entschwunden.
»Warum lässt du mich hier allein?«, schluchzte Matthieu im Regen, während er sich voller Entsetzen dessen bewusst wurde, dass es niemanden auf der Welt gab, den er in so einem Moment gerne an seiner Seite gehabt hätte.
7
K urz darauf erschien auch Matthieus Vater. Der Herr im braunen Kapuzenmantel hatte angeboten, ihn mitzunehmen. Der Schreiber sprang aus der Kutsche.
»Das darf doch nicht sein … nein, nein …«, schluchzte er, während er mit immer zögerlicheren Schritten näher kam.
Matthieu konnte ihn auf der ersten Treppenstufe abfangen und presste das Gesicht des Vaters an seine Brust, um ihm den furchtbaren Anblick des verstümmelten Jean-Claude zu ersparen.
»Lass mich los!«, brüllte der Schreiber und versuchte, sich mit langsamen und schwachen Bewegungen aus der Umarmung seines Sohnes zu befreien.
»Wir können nichts mehr für ihn tun, Vater. Nichts.«
Der Schreiber schickte einen Schrei gen Himmel, der den ganzen Schmerz enthielt, den ein Mensch je empfinden konnte.
Matthieu sah, wie Jean-Claudes Blut vom Regen die Straßen entlanggespült wurde. Und er bemerkte auf einmal, dass auch seine Hände, sein Gesicht und seine Kleidung voller Blut waren. Einen Moment lang glaubte er, völlig vom Blut seines Bruders bedeckt zu sein, und konnte selbst einen Schrei kaum unterdrücken. Aber er beherrschte sich. Aus irgendeinem Grund hatte er den Eindruck, dass er sich jetzt zusammennehmen musste. Sein Vater hörte nicht auf, ihm mit den Fäusten auf den Rücken zu trommeln.
»Er ist doch nur ein Kind … Das seid ihr beiden noch … Warum tut ihr uns das an?«, klagte er dumpf und wandte sich damit an all die Kinder einer von Kriegen erschütterten Welt, in der so viele Söhne vor ihren Vätern starben. »Was soll ich bloß seiner Mutter sagen?«
Langsam ließ er die Arme sinken.
»Vater, wir reden hier von dir«, flüsterte Matthieu liebevoll. »Du findest doch immer die richtigen Worte.«
Für lange Zeit regte sich keiner von beiden. Das Unwetter tobte stärker und stärker, und dennoch versammelten sich immer mehr Schaulustige um sie herum. Inzwischen hatte halb Paris mitbekommen, was vorgefallen war. Es erschien eine Patrouille Büttel unter der Leitung von Nicolas de la Reynie höchstpersönlich, dem Polizeipräfekten, dem der komplette Apparat unterstand.
Sein besonderer Spürsinn und seine Kühnheit hatte er dadurch bewiesen, dass er keine Bedenken hatte, auch bei solchen Verbrechen zu ermitteln, in die Aristokraten aus Versailles verwickelt waren. Und deshalb würde er sich auch die Untersuchung eines solchen Mordes auf keinen Fall entgehen lassen. Ein alter Mann erzählte ihm seine zusammenfantasierte Version der Bluttat und zeigte auf Matthieu und seinen Vater. De la Reynie kam zu ihnen herüber, um sie zu befragen. Er wandte sich mit routinierten Phrasen an sie, sie hörten ihn aber nicht, sahen ihn nicht einmal an. Die beiden Männer standen weiterhin fest umschlungen da und überwanden so wenigstens dieses eine Mal die Distanz, die sonst zwischen ihnen herrschte.
»Geh nach Hause«, sagte Matthieu schließlich. »Es ist besser, wenn sie es von dir erfährt.«
»Ich will lieber noch bleiben …«
Matthieu sah, wie die halbgeschlossenen Lider des Schreibers zitterten.
»Tu dir das nicht an, Vater. Ich warte hier, bis sie den Leichnam abholen.«
Der Mann mit dem braunen Umhang war so freundlich, ihm seinen Wagen erneut anzubieten. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen. Während die Hufe des Pferdes sich laut klappernd in Richtung Süden entfernten, schaute der Schreiber zum Fenster hinaus und bedachte Matthieu mit einem Blick, den dieser so nicht kannte. Zum ersten Mal sah sein Vater ihn wie einen Ebenbürtigen an.
Der junge Mann wandte sich zur Freitreppe um. Gerade tippte einer der Polizisten mit dem Fingernagel gegen den Geigenbogen, der in Jean-Claudes
Weitere Kostenlose Bücher