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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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Hals steckte. Die anderen machten von ihrer Autorität Gebrauch, um die Gruppe Schaulustiger zu zerstreuen, und bereiteten einen Wagen vor, um den Toten darin abzutransportieren. Der Geiger betrachtete seinen Bruder ein letztes Mal und dachte, dass der Regen seiner fahlen Haut wenigstens wieder ein wenig Glanz verlieh. Er lächelte verzerrt.
    Das Haus des Geigenbauers …, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf.
    Er bat die Polizisten, behutsam mit dem Toten umzugehen, und lief dann durch den dichten Regen zum Haus des Instrumentenmachers. Als er die Mauer des Nordgartens erreichte, sprang er hinüber, um nicht den ganzen Weg außen herum gehen zu müssen. Dabei verdrehte er sich den Knöchel, rannte aber einfach weiter. Er nahm noch eine Abkürzung, indem er die Kneipe durchquerte, die einem Freund von Isabelle, Nathalies Begleiterin, gehörte, und durch den Hinterhof direkt in die Handwerkergasse gelangte. Bald stand er vor der Haustür des Geigenbauers. Um wieder zu Atem zu kommen, beugte er sich vor und stützte die Hände auf den Knien ab. Sein Zopf hatte sich gelöst, und das feuchte Haar klebte ihm im Gesicht. Er war verschwitzt und fror. Aber vor allem hatte er Angst, große Angst. Er handelte rasch, ohne sich lange zu fragen, was er hinter den rußschwarzen Ziegelmauern des Hauses wohl vorfinden würde.
    Als er den Klopfer betätigen wollte, erkannte er, dass die Tür längst offen stand. Nach kurzem Zögern trat er in das finstere Innere und zog sie hinter sich zu. Im Dunkeln tastete er die Wand entlang, bis er auf einem Regal die Öllampe fand. Er kannte diesen Ort wie seine Westentasche. Das flackernde Licht erhellte die Werkstatt. Alles war hier noch genauso wie an dem Tag, als sein Onkel ihn zum ersten Mal hergebracht hatte, damit er dabei zusehen konnte, wie eine Geige gebaut wurde. Hinten im Raum stand der Schrank, in dem die bislang nicht zusammengesetzten Einzelteile des Instruments – Korpus und Hals – aufbewahrt wurden, daneben eine Truhe mit noch unberührten Holzplatten, Ahorn für den Boden und Weißtanne für die Decke und mitten im Zimmer der Ladentisch, auf dem der Geigenbauer seinen Kunden die fertigen Violinen zeigte. An allen Wänden hingen an Nägeln Werkzeuge und kleine Regale voller Fläschchen mit Öl. Es roch nach trockenem Holz und auch nach dem frischen, das schon vorbereitet worden war, um es schließlich so sehr zu dehnen, dass man den Eindruck haben musste, es würde noch zerbersten.
    Matthieu überzeugte sich davon, dass sich im oberen Stockwerk niemand befand, und begann dann, nervös die Borde zu durchforsten, in der Hoffnung, etwas Ungewöhnliches zu entdecken, das ihm irgendeinen Hinweis liefern würde. Er öffnete mehrere Schubladen und zog unzählige Skizzen von Geigen hervor, die mit all ihren Anmerkungen wie anatomische Zeichnungen wirkten, außerdem Entwürfe neuer Wirbelkästen und Stiche von einigen Arbeiten, auf die der Geigenbauer besonders stolz war. Dann kam er auf die Idee, in dem Geheimfach unter der Holzverkleidung nachzusehen, in dem der Hausherr die wertvollsten unter den bereits fertiggestellten Instrumenten aufbewahrte. Er bückte sich, hob das richtige Dielenbrett an und entdeckte in einer Wolke aus Staub und Sägespänen ein Bündel Notenblätter.
    Er legte es auf den Ladentisch.
    Es mussten mehr als hundert Partituren sein.
    Jetzt erinnerte er sich wieder daran, dass diese Männer Dr. Evans nach einer Partitur gefragt hatten, bevor sie mit dem Dolch auf ihn losgegangen waren. Zweifellos hielt er hier in den Händen, was sie suchten. Er warf einen Blick auf die Noten und erkannte, dass sie der Hand seines Bruders entstammten. Er erschauderte. Wann hatte Jean-Claude bloß all diese Stücke komponiert? Und aus welchem Grund? Matthieu begann, sie eines nach dem anderen zu untersuchen. Das Licht der Lampe reichte dafür kaum aus. In einem plötzlichen Wutanfall schleuderte er die Papiere zu Boden. Er konnte nicht fassen, was er da sah. Eigentlich weigerte er sich vielmehr zu glauben, dass sein Bruder damit irgendetwas zu tun hatte. Das war ja das Werk eines Wahnsinnigen! Alle Partituren waren identisch. Jede einzelne enthielt in einer einzigen Lineatur dieselbe Melodie ohne Harmonien.
    Matthieu versuchte, sich zusammenzureißen. Er atmete tief durch und konzentrierte sich auf eines der Notenblätter, das noch auf dem Tisch vor ihm lag. Er folgte der Niederschrift mit dem Finger, um die Melodie genauer zu analysieren. Das verstärkte seine Beklemmung aber

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