Das geheime Lied: Roman (German Edition)
nur, denn aus irgendeinem seltsamen Grund konnte er sie im Geiste nicht nachbilden. Dabei hatte er dies doch sein Leben lang getan, er hatte schon mit sechs Jahren Musikdiktate geschrieben und war als Siebenjähriger in der Lage gewesen, eine Partitur beim ersten Lesen vom Blatt abzusingen. Was war bloß mit ihm los?
»Ich bin eben noch ganz durcheinander«, sagte er laut, als wollte er sich davon überzeugen, dass die Erschütterung über den schrecklichen Tod seines Bruders schuld daran sein musste.
Er hob eine andere Partitur vom Boden auf, um es noch einmal zu probieren. Als er die Augen auf das Papier richtete, bemerkte er es: Die Melodie war eben nicht genau dieselbe! Das Blatt, das er jetzt in den Händen hielt, enthielt in der dritten Reihe eine Pause von der Länge einer Achtelnote, während es in der vorherigen Partitur eine Sechzehntelnote gewesen war, was gleichzeitig auf die Länge der folgenden Note Einfluss hatte. Sorgfältig überprüfte er nun auch die anderen Versionen und stellte fest, dass sich jede von der nächsten durch eine verschwindend kleine Nuance unterschied.
»Jean-Claude … Was ist das bloß?«, murmelte er.
»Nichts, was dich zu interessieren hat«, antwortete eine Stimme kategorisch von der Tür her.
Matthieu drehte sich erschrocken um und erblickte einen Mann. Er hatte sich aber kaum zu ihm umgewandt, da zerteilte der Neuankömmling auch schon mit einem Schwert die sägemehlschwangere Luft und zerschlug die Lampe. Die Werkstatt des Geigenbauers war plötzlich in Dunkelheit getaucht. Matthieu reagierte rasch und warf sich treffsicher in Richtung der Treppe zum ersten Stock. Doch noch bevor er oben ankam, schoss es ihm durch den Kopf: Die Partitur … Er hielt unversehens inne und lauschte eventuellen Geräuschen, um herauszufinden, ob der Unbekannte ihm folgte. Es schien nicht so. Er konnte nur das Knarzen der wackeligen Stufen aus Holz unter seinen eigenen Schritten hören und das Echo des Regens, der draußen auf die Straße prasselte. Er wagte es, über das Geländer zu springen, und kam neben dem Regal auf. Ohne sich von der Stelle zu rühren, verharrte er in der Hocke. Er hörte, wie die Haustür mehrmals gegen den Rahmen schlug, sich dabei allerdings nicht völlig schloss. Mein Gott, er ist fort …, dachte Matthieu. Langsam umrundete er das Regal und näherte sich dem Ladentisch. Er streckte die Hand aus, um die Partitur zu finden, die er analysiert hatte. Dann tastete er herum und griff nach der ersten, die er fand. Genau in diesem Moment zerschnitt das Schwert pfeifend die Dunkelheit. Es verfehlte seine Finger nur haarscharf, bohrte sich in die Tischplatte und schnitt dabei eine Ecke des Notenblattes ab. Matthieu packte das Papier und rannte erneut in Richtung Treppe, den keuchenden Atem des Fremden im Nacken, der nur Zentimeter entfernt hinter ihm herrannte. Matthieu hatte das Gefühl, ihm würde das Herz in der Brust zerspringen, als er sich, kurz bevor er die Luke zum oberen Stockwerk erreichte, umdrehte und ins Freie trat. Er spürte den Schlag am Absatz seines Stiefels und hörte, wie der Mann die Treppe hinunterrollte. Endlich gelangte der Geiger ins obere Stockwerk. Er kletterte auf ein Fensterbrett und sprang hinaus in den Regen. Unten kam er auf Säcken mit Schafwolle auf, die ein benachbarter Handwerker für die Herstellung von Matratzen benutzte, hätte sich aber trotzdem beinahe das Rückgrat gebrochen. Als Kind hatte er diesen Sprung oft mit Jean-Claude gewagt, wog jetzt jedoch natürlich mehr. Er ignorierte den Schmerz und sah nach oben, wo nun auch der Fremde das Fensterbrett erklomm. Matthieu lief die Straße hinunter und auf den Kanal zu. Er umklammerte fest die Partitur, die er noch immer bei sich hatte. Wenn er in eine andere Straße einbog oder einen Platz überquerte, sah er sich in dem Glauben um, den Fremden endlich abgehängt zu haben, dieser erschien dann aber doch immer früh genug, um zu sehen, welchen Weg der Geiger einschlug. Matthieu schob sich in eine enge Gasse und erreichte den Markt. Er hatte es für eine gute Idee gehalten, sich dort zwischen den Waren zu verstecken, jetzt wurde ihm allerdings klar, dass ihn die Verkäufer, die sich vor dem Regenguss unter Planen gerettet hatten, sehen konnten und ihn womöglich an seinen Verfolger verraten würden. Er beschloss weiterzulaufen, konnte sich aber kaum noch ein paar Schritte voranschleppen, so erschöpft war er. Ihm blieb keine andere Wahl, wie er erkannte, also näherte er sich der
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