Das geheime Lied: Roman (German Edition)
den Mund auf, bis er sich fast den Kiefer ausrenkte, und hätte so gerne geweint, brachte aber weder Tränen noch ein Schluchzen hervor. Wenn Jean-Claude wirklich einmal existiert hatte, was war dann jetzt noch von ihm übrig? Sein Körper war von einem Mörder verstümmelt worden, und Lully hatte die Partitur an sich genommen, in die er seine Seele gegossen hatte. Er war nirgendwo mehr zu spüren. Nicht einmal in der Stille, die doch eigentlich Platz für alles bot.
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V on diesem Moment an wurde die Zeit zu einer simplen Aneinanderreihung leerer Tage und endloser Nächte. Der Schreiber und seine Frau lebten jetzt zurückgezogen und empfingen keinen Besuch mehr. Sie saßen einander einfach nur gegenüber und alterten in schwindelerregendem Tempo vor sich hin, während der Geruch von saurem Wein die Stube erfüllte. Die Ermittlungen um Jean-Claudes Tod brachten noch immer keine Ergebnisse. Obwohl einflussreiche Freunde der Familie eingriffen und auf Polizeipräfekt de la Reynie Druck ausübten, damit er Licht in die Geschehnisse brachte, gab es keinen Fortschritt in irgendeiner Richtung. Wie auf der Straße gemunkelt wurde, waren manche sogar der Überzeugung, dass der Teufel höchstpersönlich für das schreckliche Verbrechen von Saint-Louis verantwortlich war. Dies spornte die Ermittler nicht gerade an, die sich üblicherweise von jedem Fall fernhielten, der auch nur im Entferntesten an Hexerei denken ließ.
Matthieu hatte mehrmals erfolglos versucht, mit seinem Onkel zu sprechen. Er war davon überzeugt, dass dieser über Informationen zu dem Mord verfügte, die er nicht preisgab. Es war bereits eine Woche verstrichen, als die Haushälterin von Mademoiselle de Guise ihn endlich ins Gebäude ließ. Eine ganze Weile schleuderte er der verschlossenen Tür zu Charpentiers Gemächern verzweifelt Fragen entgegen: warum Jean-Claude auf einmal von Alchemie gesprochen hatte, was Dr. Evans mit der ganzen Sache zu tun hatte, welches Geheimnis sich um die Partituren im Haus des Geigenbauers rankte, wieso er das Gefühl hatte, dass ihn jede Sekunde ohne seinen Bruder dem Tod näher brachte … Er glaubte, auf der anderen Seite ein Schluchzen zu hören, die Tür öffnete sich aber nicht. Matthieu verließ das Haus und wollte gerade weggehen, als er vernahm, wie ihn der Verwalter aus dem Garten zu sich rief.
Er hatte einen Zettel für ihn, eine Nachricht von seinem Onkel.
Der junge Mann riss ihm das Papier aus der Hand und las gierig die wackeligen Zeilen voller Tintenspritzer, deren Unvollkommenheit den Inhalt des Schreibens nur noch herzerweichender machte. Jener Brief wirkte wie eine von Charpentiers Orgelkompositionen, direkt, tiefsinnig und voller Poesie. Er schrieb seinem Neffen, dass er ihn liebe, ihn aber nicht wieder ansehen könne, bis er nicht seine eigenen Augen wiedererlangt hatte, jenen Blick, der in jeder Truhe eine Bratsche sah und eine Harfe in jedem Webstuhl. Dass er seine Stimme nicht vernehmen könne, bevor er nicht seinen Ohren wieder trauen konnte, jenem Gehör, das im Hafen ein Weinen im Geräusch der Kräne hörte und Lachen im Sprudeln des Wassers. Dass er niemandem einen Rat geben könne, solange seine Kehle jede einzige Melodie verfluchte, die er durch die Pfeifen seiner Orgel gen Himmel geschickt hatte.
Zum ersten Mal seit jenem Moment, an dem er Jean-Claude auf der Freitreppe von Saint-Louis vorgefunden hatte, verspürte Matthieu keine Beklemmung mehr. Er las die Nachricht immer und immer wieder, ging sie hundertmal durch und konnte darin hundert Bedeutungen erkennen. Auf einmal überkam ihn Mitleid. Warum bin ich bloß so besessen davon, den Dingen auf den Grund zu gehen?, dachte er. Jean-Claude bringt mir ja doch niemand zurück. Warum also noch mehr Schmerz verursachen? Ihm fehlte Schlaf, und auf seinen Schultern ruhte die Last, die wir Menschen tragen müssen, wenn Traurigkeit unser Blut vergiftet. Er stimmte seine Geige, wischte mit einem trockenen Tuch über den Korpus und begann zu spielen, versuchte, sich auf die Kammermusikübungen zu konzentrieren, die er vernachlässigt hatte.
Einen Moment lang hielt er es wirklich für eine gute Idee – da er nichts tun konnte, um die Welt zum Stillstand zu bringen, würde er einfach so tun, als könnte er weitermachen wie bisher, als wären die Geschehnisse spurlos an ihm vorübergegangen. Tief in seinem Inneren wusste er jedoch, dass dies unmöglich war. Die Dinge hatten sich verändert. Bei jeder Melodie, die er spielte, konnte er die
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