Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Sache je wieder erwähnt. Als der Bote in der Schule erschien, zeigte der junge Musiker seinem Lehrmeister gerade, welch große Fortschritte er bei einer komplizierten Übung zur Verfeinerung der Technik gemacht hatte. Vor der Tür waren laute Stimmen zu hören, und sie traten eilig auf den Gang.
»Was geht hier vor sich?«
»Seid Ihr Monsieur Le Pautre?«, wandte sich der Bote an den Lehrer, ohne sich mit den üblichen Formalitäten aufzuhalten.
»Höchstpersönlich.«
»Ich bin gekommen, um Euch nach Versailles zu begleiten.«
»Jetzt gleich? Wer sagt das?«
»Maestro Lully. Eure Anwesenheit im Parterre de fleurs sei unumgänglich, und zwar sofort.«
»Maestro Lully?«, wunderte sich der Angesprochene. »Aber die Vorstellung beginnt doch erst am Abend.«
»Vielleicht wird es gar keine Vorstellung geben«, sagte der Bote und deutete auf den Himmel draußen.
Der Kammermusikmeister, der das Gebäude bereits vor Tagesanbruch betreten und sein Zimmer seitdem nicht mehr verlassen hatte, machte einen Schritt hinaus ins Freie.
»Oh mein Gott … Es wird regnen …«
»Und zwar jeden Augenblick.«
»Und was kann ich da tun?«
»Maestro Lully will die komplette Kulisse an einen anderen Ort bringen, bevor das Unwetter losbricht.«
»Wohin denn?«
»Vom Apollo-Brunnen, wo die Bühnenbauten nun stehen, in den Wintergarten der Orangerie.«
»In den Wintergarten?«, rief Le Pautre aus.
»In den Wintergarten?«, echote Matthieu hinter ihm.
»Dort will er die Oper aufführen«, fügte der Bote wenig überzeugt hinzu. »Er lässt nach allen Musikern und Mitarbeitern seines Vertrauens schicken und auch nach den Kulissenschiebern und Handwerkern. Und zwar nicht nur nach denen, die in der Nähe des Palastes leben. Alle werden ohne Ausnahme mobilisiert.«
Matthieu war genauso sprachlos wie der Kammermusikmeister. Das Bühnenbild des Amadis bestand aus riesigen und äußerst empfindlichen Elementen. Wie gedachte Lully, sie in nur wenigen Stunden auseinanderzunehmen, zu transportieren und am neuen Ort wieder zusammenzubauen? Und die Orangerie war ja auch kein Konzertsaal. Es handelte sich um ein großes Treibhaus, bestehend aus verschiedenen Galerien mit gewölbten Decken. Der König hatte es entworfen, um dort exotische Pflanzen unterzubringen und vor allem seine Orangenbäume vor Temperaturschwankungen zu schützen. Dort war überhaupt kein Platz. Im Inneren des Gewächshauses standen in Kübeln Hunderte dieser Bäume und warteten darauf, vom Landschaftsgärtner nach Belieben im Palast oder in irgendeinem Winkel des Parks aufgestellt zu werden, wo sie ihre mediterrane Note einbringen konnten.
»Warum denn in der Orangerie?«, fragte Monsieur Le Pautre noch einmal. »Seid Ihr sicher, dass Maestro Lully das gesagt hat?«
»In den anderen Räumen des Palastes sind schon einmal Werke aufgeführt worden«, erklärte der Bote schulterzuckend.
»Aber mein Gott, das ist doch ein Treibhaus!«
Matthieu hätte sich gerne an der Unterhaltung beteiligt. Der Kammermusikmeister konnte offensichtlich nicht begreifen, dass eine Oper weitaus mehr war als nur ihre Musik. Es ging auch um Kostüme und Kulissen und eine überraschende, leidenschaftliche oder dramatische Handlung, die von gewissen Gerüchen oder gelegentlich sogar vom nötigen Schießpulver begleitet wurde. Zum Glück war all dies Maestro Lully sonnenklar. Damit Amadis de Gaule sowohl dem Libretto als auch all den hohen Erwartungen gerecht werden konnte, brauchte es etwas Neues, Radikales. Nachdem die Aufführung in den Gärten verworfen worden war, konnte man nicht einfach die gleichen Konzertsäle, die in der Vergangenheit bereits benutzt worden waren, neu einkleiden. Daher hatte Lully beschlossen, jene Baumschule in die Fantasiewelt zu verwandeln, die hier vonnöten war. Es war die beste Möglichkeit, um den König zu beeindrucken und gleichzeitig seine eigene Musik zu würdigen.
Angesichts dieser Neuigkeiten, die er für völligen Wahnwitz hielt, suchte der Kammermusikmeister nach seinem Stock und schritt auf die wartende Kutsche zu.
»Maestro«, rief Matthieu.
»Siehst du denn nicht, dass ich keine Zeit zu verlieren habe?«, schalt ihn Le Pautre, einen Fuß bereits auf der Stufe der Kutsche.
»Lasst mich mitfahren!«
»Was sagst du da?«
»Ich kann helfen«, beteuerte sein Schüler selbstsicher.
Monsieur Le Pautre zögerte einen Moment. Matthieu hatte seine ganze Überzeugungskraft in diesen Satz gelegt, fürchtete aber, dass dies noch nicht genug war. Diese
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