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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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»Jean-Claude hat mehr als hundert Partituren komponiert. Wenn Ihr nicht irgendetwas übersehen hättet, dann wäre eine davon die richtige.«
    »Ich werde einfach nur auf Euren Brief warten«, antwortete der Wissenschaftler lediglich. »Ich weiß, dass wir weitermachen werden bis zum Ende. So könnt Ihr dem Tod Eures Neffen noch einen Sinn verleihen.«
    Er drehte sich um und verließ ohne das Papier den Palast von Mademoiselle de Guise, und zwar durch denselben Dienstboteneingang, durch den er ihn eine Stunde zuvor betreten hatte. Ohne noch einmal innezuhalten, durchquerte er den weitläufigen Garten hinter dem Gebäude. In einer finsteren Ecke wartete eine Kutsche auf ihn. Ihre vier ebenso dunklen Pferde würden die ganze Nacht durchgaloppieren, um ihn kurz vor dem Ablegen des Schiffes zum Hafen zu bringen, mit dem er den Kanal überqueren würde.

9
    N ach dem Gespräch mit seinem Onkel in der Palastküche machte Matthieu sich auf den Weg zur Musikschule. Seine Geige trug er beinahe immer bei sich, am Vortag hatte er sie jedoch dort zurückgelassen, weil er bereits gewusst hatte, dass er wegen seines Schäferstündchens mit Virginie seine Übungen vernachlässigen würde. Er schäumte vor Wut, und er wollte so schnell wie möglich das Instrument unter seinen Fingern spüren, entweder um darauf zu spielen oder aber um es zu zerschlagen und sich mit den Splittern etwas anzutun.
    Es herrschte tiefschwarze Nacht, als er die Schule erreichte. Die Vorderseite des Gebäudes zierte ein Relief mit Engeln, das eigentlich besser zu einer Kapelle gepasst hätte. Er läutete an der Eingangstür, doch niemand öffnete ihm. Er sah zu den Fenstern des oberen Stockwerks hinauf, in dem das bretonische Pärchen lebte, das in der Schule die Hausmeistertätigkeiten übernahm. Bei ihm brannte kein Licht.
    Matthieu kletterte über den Zaun, um durch die Hintertür ins Gebäude zu gelangen. Der Wachhund kam aus seinem Bretterverschlag und bellte ihn dumpf an, erkannte ihn aber schließlich und knabberte sabbernd an seinem Ärmel. Seine Zuneigung linderte für einen Moment die tiefe Verzweiflung des jungen Mannes. Er umarmte das riesige Tier, das nach Lehm roch, und blieb eine Weile bei ihm im Garten hocken.
    Als er dann endlich das Haus betrat, zündete er eine Öllampe an und machte sich direkt auf die Suche nach seiner Geige. Er öffnete den Schrank, in dem er sie aufbewahrte, und sah sie einen Augenblick bewundernd an. Er kolophonierte den Bogen und begann, das Instrument sorgfältig zu stimmen, da er die Saiten nach dem Spielen stets lockerte. Er legte es sich sanft auf die Schulter und schob das Kinn an das Holz. Dann atmete er tief ein. Die Haare des Bogens berührten die Saiten nicht. Er war noch nicht bereit.
    Stattdessen griff er nach der Lampe und wanderte durch das Gebäude, um etwas zur Ruhe zu kommen. Er warf einen Blick in den Raum, in dem der Kammermusikmeister unterrichtete. Zwei leere Stühle, auf dem Tisch seelenlose Partituren, simple Notenreihen mit dem einzigen Zweck, die Spieltechnik zu verbessern. Er ging durch den Flur weiter und blieb vor der Tür des Raumes stehen, in dem sich Maestro Lully aufhielt, wenn er in die Schule kam. Kein Schüler trat über diese Schwelle, außer er wurde herzitiert, und das verhieß üblicherweise nichts Gutes. Gedankenverloren betätigte Matthieu die Klinke und stellte fest, dass nicht abgeschlossen war. Ein Schaudern überkam ihn, als sich die Tür langsam öffnete. Ohne groß darüber nachzudenken, trat er auch schon ins Zimmer.
    Ihn überraschte seine prunkvolle Ausstattung, die eher zu einem Saal in Versailles gepasst hätte. Der Tisch des Maestros erhob sich in der Mitte des Raumes auf vier gekrümmten Beinen. Der Stuhl war ebenso filigran gearbeitet. Im hinteren Bereich gab es einen Kamin, und darüber thronte eine Kopie des Gemäldes von Merkur in seinem von zwei Hähnen gezogenen Wagen, das in den Gemächern des Königs hing.
    Er näherte sich dem Tisch und sah einen Stapel an der Seite zusammengenähter Blätter durch, auf dem ein Zettel mit der Aufschrift »Monsieur Lully« lag.
    »Das neue Libretto …«, flüsterte er fasziniert.
    Es war der endgültige Text von Amadis de Gaule , der korrigierten Opernversion des Dichters Quinault. Wie aufregend war es doch, diese Seiten in den Händen zu halten – immerhin hatte sie bislang nicht einmal Maestro Lully selbst gelesen.
    Wie Nathalie bei ihrem Treffen an der Kirchentür bereits erwähnt hatte, sollte das Werk auf Wunsch

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