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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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des Königs in zwei Wochen bei dem Fest aufgeführt werden, das in den Gärten von Versailles anlässlich des Besuchs siamesischer Botschafter stattfand. Dabei würden noch weitere ausländische Delegationen anwesend sein. Ludwig XIV . wünschte sich schon lange ein französisches Werk, welches die italienische Oper, die zurzeit ganz Europa überrollte, in den Schatten stellen würde. Alle erwarteten die Aufführung voller Spannung.
    »Was will er denn in zwei Wochen noch zustande bringen …«, murmelte der Geiger, dem klar war, dass Lully kaum Zeit haben würde, um die Musik den Änderungen im Text anzupassen und alles sorgfältig einzustudieren. »Und nachher schiebt er dann den Musikern die Schuld zu.«
    Er setzte sich auf den Stuhl des Maestros und begann zu lesen. Die Geschichte des Amadis handelte von einem kleinen Jungen, der von seinen Eltern, einem König und einer Prinzessin, in einem Boot zurückgelassen werden muss. Ein Ritter nimmt sich des Kindes an, das später, zu einem mutigen Jüngling herangewachsen, mehr über seine Herkunft wissen will und sich aufmacht, Abenteuer zu erleben. Mit der Hilfe von Urganda, seiner guten Fee, kämpft der junge Mann gegen Armeen und Ungeheuer und um die Liebe der Prinzessin Oriana. Matthieu war verzaubert. Besonders nahe gingen ihm die Passagen aus der Sicht von Amadis’ Halbbruder Florestan, dessen leidgeprüftem Abbild. Wie er wollte auch Matthieu seine eigene Herkunft ergründen, für immer seinen Bruder Jean-Claude bewundern, unter dem Schutz einer Fee stehen und eine Prinzessin lieben, nachdem er einen von Ungeheuern bevölkerten Wald durchquert hatte.
    Der Moment war gekommen. Er musste diesen magischen Text in Musik umsetzen.
    Er holte sich neue Notenblätter und kehrte in das Zimmer des Maestros zurück. Dort legte er das Papier auf den Tisch und sah das Libretto noch einmal durch. Er beschloss, mit den ersten Versen der Oper zu beginnen, in denen Amadis’ unbewusster Ruf die Fee Urganda ereilt und sie mit ihrem Gemahl Alquif im Duett singt. Er atmete tief durch und trug die Zeilen laut vor:
    »Mich lockt ein Laut,
ihn zu suchen.
Der Zauber ist durchbrochen.
Erwachet!«
    Ohne einen weiteren Moment zu verlieren, begann er zu spielen. Während er den Bogen über die Saiten gleiten ließ, sah er nur Jean-Claude vor sich, den feuchten und blassen Körper, der wie ein schiffbrüchiges Stück Holz zwischen den beiden Welten trieb, und er dachte daran, wie glücklich er all die Jahre an der Seite seines Bruders gewesen war. Die ganze Zeit hatte er niemals das Gefühl gehabt, seinen Platz einzunehmen. Sie entstammten verschiedenen Embryonen, ihr Schicksal war jedoch eins. Die Musik war ihr Anfang und Ende, egal was Charpentier auch sagte. Hätte nicht vielmehr er sterben sollen, der ja kein leiblicher Sohn des Schreibers war? Plötzlich brach er sein Geigenspiel ab und riss die Augen auf. Die Phrase, die er dem Instrument da entlockt hatte, verblüffte ihn. Er wiederholte sie langsam, bis zu dreimal, und legte dann die Violine auf den Tisch, um die Melodie niederzuschreiben, bevor sie ihm wieder entschlüpfte. Er begann, das Notenblatt zu füllen. Der Kohlestift huschte über die Linien und hinterließ in der Eile kaum zu entziffernde Aufzeichnungen. Matthieu griff erneut zum Instrument und improvisierte einige Variationen ausgehend von dem, was er bereits erschaffen hatte. Die Melodien ließen ihn erschaudern. Das hier war nicht wie sonst. Es ging nicht darum, eine Note hinter die andere zu schreiben wie die Bausteine eines vorhersehbaren harmonischen Palastes. In jener Nacht war ihm, als ob diese Melodie bereits vor ihm existiert hatte wie ein goldener Faden, perfekt und poliert, jedoch flüchtig, der in einer anderen Dimension schwebte und darauf wartete, eingefangen zu werden. Matthieu spürte, wie ihm bei jedem Takt das Herz zu zerspringen drohte und dass die Melodie der Welt der Sinne zuvorkam und feierte, unendlich frei zu sein.
    Die Ekstase und die Erschöpfung waren derart, dass er auf die Tischplatte sank, sobald die letzte Note geschrieben war. Die Notenblätter um sich zerstreut und die Fingerspitzen schwarz vor Kohle, wurde er vom Schlaf übermannt, in dem für den Tod kein Platz war.
    Kurze Zeit später öffnete jemand das Schultor. Die waagerechten Strahlen der aufgehenden Sonne kamen ihm noch zuvor und fielen in den Flur hinein bis ins Arbeitszimmer. Sein Arbeitszimmer. Es war Maestro Lully höchstpersönlich. Man hatte ihn darüber informiert, dass

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