Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Bewegungen seiner Hände wahrnehmen, die primitiven Befehle seines Gehirns vorhersehen. Was seiner Violine entsprang, war völlig mechanisch; oder schlimmer noch, es war ein rein physikalisches Phänomen, das Ergebnis der Reibung eines Pferdehaarbogens auf vier Saiten aus Darm.
Was er spielte, hatte keine Seele.
Es war keine Musik.
11
I n der Nacht vor der Uraufführung von Amadis de Gaule machte der König kein Auge zu. Und zwar nicht, weil er keinen Schlaf finden konnte, sondern weil er lieber jede Minute damit auskosten wollte, sich all die Überraschungen auszumalen, die die Vorstellung für ihn bereithalten würde. Er hatte aufmerksam den Aufbau der Kulissen in den Palastgärten mit verfolgt, Maestro Lully hatte ihm in Bezug auf das Ballett jedoch kein Sterbenswörtchen verraten, und er hatte bisher auch nur ein paar vereinzelte Noten der Musik gehört.
Lullys erste Opern waren vor Jahren im Theater in der Rue Saint-Honoré gezeigt worden, das der Herrscher hatte bauen lassen, damit der Komponist über eine seinen Ansprüchen genügende Bühne verfügte. Bei den nächsten Darbietungen seiner Werke entschied man sich für die zum Königshof gehörenden Paläste in Marly, Saint-Germain und Fontainebleau. Und später fanden seine Erstaufführungen dann in den prachtvollen Sälen von Versailles statt oder sogar wie dieses Mal im Freien mit dem Park als Kulisse. Wenn es galt, eine große Oper aufzuführen, konnte kein Gebäude den blauen Himmel übertreffen. Für die vor Fantasie nur so strotzende Aufführung des Amadis gab es keinen besseren Ort als den Apollo-Brunnen nahe der Allée de la Reine.
Wenn er nur daran dachte, wurde der König ganz aufgeregt. Die Darbietung würde am Spätnachmittag beginnen, und die Lichtveränderungen durch den Sonnenuntergang würden in die Aufführung mit hineinspielen und die Geschichte des mittelalterlichen Abenteurers bei der Ouvertüre vor einem hellblauen Hintergrund platzieren, der zu intensivem Orange übergehen würde, um später den dritten Akt in tiefschwarze Nacht zu tauchen, durchbrochen vom Schein Hunderter Fackeln, die im Park einen magischen Moment heraufbeschwören würden.
»Der Morgen bricht sicher schon an …«, sagte er sich, denn er hielt die Warterei nicht länger aus.
Er schob die Laken beiseite, stieg über das niedrige Geländer, das sein Bett in der Mitte des goldenen Raumes einrahmte, und ging zum Fenster, wobei er sein Nachthemd schürzte.
Er schaute aus dem Fenster.
Grau.
Mehrmals schloss er die Augen und öffnete sie wieder. Er konnte nicht fassen, was er da sah.
Grau, grau, grau!
König Louis stieß ein zischendes Geräusch aus. Ein Page öffnete erschrocken die Tür.
»Majestät?«
»Was soll das?«, rief der König entsetzt. »Wo ist denn die Sonne?«
»Der Morgen zeigt sich bewölkt, Majestät.«
»Die Palastgelehrten haben mir doch versichert, dass es heute nicht regnen wird. Wo stecken die? Ich will sie hier augenblicklich sehen! Nie sind sie da, wenn man sie braucht!« Er steckte wieder den Kopf zum Fenster hinaus. »Und du, wo bist du bloß, du verräterische Sonne?«
In den letzten zwei Wochen hatte es weitaus sonnigere Tage und höhere Temperaturen gegeben als im Pariser Sommer sonst üblich, weshalb der Herrscher beschloss, dass dieser graue Morgenhimmel nichts weiter als ein makabrer Spaß sein konnte.
Jeden Augenblick wird ein himmlisches Licht die Wolken zerstreuen und ein tiefblaues Firmament zum Vorschein kommen lassen, versuchte er, sich selbst zu überzeugen.
Als die Gelehrten bestätigten, dass sie einen Fehler gemacht hatten und bald ein Unwetter losbrechen würde, war der König untröstlich. Während seiner Herrschaft hatte er sich Widrigkeiten nur selten ergeben, bewundernswert für jemanden, der Frauen, Kinder und Enkel hatte sterben sehen, doch die großen Feldzüge verloren langsam an Schwung, und er hatte all seine Hoffnungen auf den Amadis gesetzt. Die Aufführung absagen zu müssen war das Schlimmste, was ihm jetzt passieren konnte.
Maestro Lully kam als Nächster an. Die Gelehrten schoben sich im Bullaugensalon, dem Vorzimmer zum königlichen Gemach, gegenseitig die Schuld zu. Lully trat an Marquis de Louvois, den Kriegsminister, heran. Nach Colberts Tod, mit dem er hitzige Diskussionen darüber geführt hatte, wie ein Land zu regieren sei, hatte Louvois nun eine privilegierte Stellung inne, die ihm in jedem Moment den persönlichen Kontakt zum Souverän ermöglichte, noch viel mehr, seitdem er zum
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