Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Fort Dauphin bringen und seine Route fortsetzen. Ihr habt dann drei Monate Zeit, um die Mission zu erfüllen, bevor man euch auf dem Rückweg nach Frankreich an derselben Stelle wieder abholt.«
Auch das vermochte Matthieu nicht zu überzeugen.
»Könnten sie stattdessen nicht vor Anker gehen und auf uns warten?«
»Mach dir mal keine Sorgen. Der Frachter wird mit Tee beladen und kehrt rechtzeitig zum Treffpunkt zurück.«
»Aber …«
»Wenn der Frachter vor der madagassischen Küste ankern würde, könnte der neue König der Anosy sich bedroht fühlen, und die Mission würde scheitern, noch bevor sie begonnen hat«, musste Charpentier zugeben. »Außerdem wäre ein Schiff, das so lange in Strandnähe bleibt, ein ideales Ziel für die Piraten, die diese Gewässer unsicher machen.«
Matthieu wäre es lieber gewesen, man hätte ihm etwas mehr Zeit gelassen, um das alles zu verdauen.
»Wo läuft der Kahn aus?«
»In La Rochelle. Sobald du an Bord bist.«
»In La Rochelle …«
»Du musst sofort aufbrechen. Dich erwartet eine lange Reise.«
Matthieu erfrischte sich mit dem Wasser aus einer Waschschüssel und legte die Kleider an, die sein Onkel für ihn mitgebracht hatte.
»Meine Geige!«, rief er auf einmal erschrocken.
Charpentier ging in die Sakristei und kehrte mit einem Ledersack zurück, in den er den Instrumentenkoffer gesteckt hatte.
»Ich habe bei der Schule vorbeigeschaut und sie abgeholt. Außerdem habe ich dir einen schönen Stapel Notenblätter und Kohlestifte eingepackt, damit du für die Partitur unbesorgt so viele Entwürfe erarbeiten kannst, wie du nur willst. Ah, und hier ist der Passierschein, den sie mir aus Versailles geschickt haben, falls du eines Tages danach gefragt wirst.«
Sie traten hinaus in die Gasse. Charpentier gab sich gelassen, sein Gesichtsausdruck verriet jedoch seine Anspannung, und er wollte sich nur ungern verabschieden. Matthieu stellte seine Tasche in die Kutsche.
»Wenn Ihr Nathalie seht …«
»Le Nôtres Nichte?«
»Verratet ihr nicht …« Er sprach lieber nicht weiter. »Ich werde um die halbe Welt reisen!«, rief er plötzlich mit seinem üblichen Enthusiasmus aus. »Ich hoffe nur, Euch nicht zu enttäuschen.«
Ergriffen fasste ihn Charpentier bei den Schultern.
»Tu mir nur einen einzigen Gefallen: Vergiss alles, was nichts mit der Musik zu tun hat, denk nicht an das, was du in Paris zurücklässt, oder daran, was bei deiner Rückkehr geschehen wird. Konzentrier dich darauf, vorbehaltlos zuzuhören, mögen deine Ohren ihre Unschuld zurückerlangen! Fang den Puls der Paradiese und Höllen ein und gieß in diese Partitur, was Gott hinter dem Horizont geschaffen hat.«
Matthieu schickte sich an, den Wagen zu besteigen, hielt aber auf den Stufen inne.
»Da ist noch etwas, nicht wahr?«
Die Pferde schnaubten energisch. Der Kutscher versuchte sie mit knappen Worten zu beruhigen.
»Was meinst du?«
»Was steckt hinter alledem? Auf einmal habe ich das Gefühl, dass diese Reise nur auf mich gewartet hat. Als Lully sich mein Duett zu eigen machte, habe ich gedacht, dass ich nie wieder komponieren würde, aber seit gestern kribbelt es mich in den Fingern, als müssten sie unbedingt die Saiten einer Geige berühren, um dort zu explodieren und sich freizuspielen …«
Charpentier streckte die Hand aus und strich seinem Neffen übers Haar, als wollte er ein Kind trösten. Er wagte es nicht, ihm zu sagen, dass nur das Schicksal einen solchen Moment einfädeln konnte und dass es auf der ganzen Welt außer ihm keinen anderen Menschen gab, der dieses Unterfangen erfolgreich zu Ende führen konnte.
»Mein lieber Matthieu, woher kommt bloß diese Feinfühligkeit? Von mir hast du sie offensichtlich nicht geerbt!« Beide lächelten. »Hör jetzt bitte noch ein einziges Mal auf mich. Wenn du zurückkehrst, wirst du mein Lehrmeister sein.«
»Was kann ich Euch denn noch beibringen?«, entgegnete Matthieu, angesichts dieser Prophezeiung seines Onkels schwang jedoch Stolz in seinen Worten mit.
»Unsere Taten haben immer eine Bedeutung, aber wir dürfen die Antworten auf unsere Fragen nicht erzwingen. Wir können nur darauf vertrauen, dass sie im richtigen Augenblick enthüllt werden, wenn wir angemessen handeln. Darin besteht der Glaube der Christen oder der Alchemisten, die wie Isaac Newton ihr Leben lang nach dem Schlüssel gesucht haben, der ihnen Zugang zu unbekannten Dimensionen verschafft. Sieh ihn doch nur an. Er ist der größte Wissenschaftler auf Erden und
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