Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Universum der Töne zu verlieren. Warum bloß hatte er alles getan, um eine solche Frau von sich fernzuhalten? Nathalies Herz schlug so sanft, dass es jeden überwältigen musste, und an jenem Tag ihres ersten Kusses im Gässchen neben der Kirche hatten ihre Lippen süß geschmeckt wie der Kuchen des Zuckerbäckers. Aber in diesem Moment überkam ihn eine Offenbarung, drängte sich ihm als Frage auf, bei der ihm heiß und kalt wurde:
Was war das erste Geräusch, das wir gemeinsam vernommen haben?
Er konnte es nicht fassen und presste die Augen in der Dunkelheit zusammen, als könnte er so klarer denken. Welcher unter all den Tönen? Ist es denn möglich, dass unser erster gemeinsamer Laut sich im Trubel der Stimmen und all des Lärms verloren hat?
Plötzlich ekelte er sich vor sich selbst. Er hatte sie überhaupt nicht verdient. Er war ja nicht einmal dazu in der Lage gewesen, das Einzige zu bewahren, das nur ihnen beiden und sonst niemandem gehörte. Wie konnte er nur so schwach sein und sich selbst zu überzeugen versuchen, dass er eines Tages aus reiner Zweckmäßigkeit schon beginnen würde, sie zu lieben? Er verfluchte sich selbst, und seine Verachtung wurde von den vier Wänden des winzigen Raumes zurückgeworfen. Er hatte sie nie geliebt, zumindest nicht so, wie er seinem Bruder Jean-Claude zugetan gewesen war oder seiner Geige. Konnte man denn auch eine Frau derart lieben, auf so verzweifelte Art und Weise? Hatte Amadis de Gaule etwa so die Prinzessin geliebt? Es gab nur einen einzigen Weg, dieser fehlgeleiteten Geschichte ein Ende zu machen. Er musste erreichen, dass Nathalie ihn hasste, und das konnte er am besten, indem er ihr nichts von seiner Reise erzählte. Er würde den ersten Tag überstehen und dann noch einen und noch einen weiteren, und jeder Tag wäre ein Schritt auf dem Weg zum befreienden Vergessen.
Es schien noch keine Sekunde verstrichen zu sein, als ihn auf einmal jemand an der Schulter rüttelte.
Es war Charpentier. Er wiederholte immer wieder die gleichen Worte: »Wir dürfen keine Zeit verlieren! Komm schon, Matthieu! Wach um Gottes willen auf!«
»Was ist geschehen?«, fragte dieser schließlich unwillkürlich, noch mitten in einem verwirrenden Traum.
»Schnell! Du musst augenblicklich aufbrechen!«
Aufbrechen? Er konnte noch gar nicht klar denken.
»Ist die Nacht etwa schon vorbei?«
»Es ist sogar schon Nachmittag. Du hast fast vierundzwanzig Stunden durchgeschlafen.«
Durch das kleine Fensterchen sah er jetzt die Sonne.
»Ich war so erschöpft …«
»Steh bitte auf.«
»Wohin gehen wir?«
»Louvois hat mich verständigt. Vor der Tür wartet eine Kutsche auf dich.«
Matthieu erstarrte.
»Jetzt schon?«
Charpentier gab ihm noch einen Augenblick, um richtig wach zu werden.
»Der Minister scheint begriffen zu haben, wie knapp unsere Zeit bemessen ist. Als wir in Versailles aufgebrochen sind, hat der König einen gewissen Kapitän La Bouche rufen lassen und sich mit Verantwortlichen der Ostindienkompanie beraten, damit diese ein Schiff unter sein Kommando stellen.«
»Wer ist dieser Kapitän La Bouche?«
»Er hat seinerzeit für den König See- und Landwege erschlossen. Damals wurde er als einer der besten Diener der Krone angesehen.«
»Warum sprecht Ihr in der Vergangenheit? Hat sich dies denn geändert?«
»Vor zehn Jahren hat er in der Schlacht um Fort Dauphin fast all seine Männer verloren, an jenem Tag, als die Eingeborenen vom Stamm der Anosy uns definitiv aus der Bastion vertrieben haben. Das war für ihn der Anfang vom Ende. Er verließ die Armee und hat in all dieser Zeit an der Westküste Afrikas Handel getrieben. Er hat die Hoffnung aber nie aufgegeben, dass der König eines Tages doch noch eine weitere Expedition zur Insel schicken würde.«
»Das klingt nicht gerade, als ob man bei ihm in guten Händen wäre …«
»Louvois ist schon seit vielen Jahren Kriegsminister und weiß ganz genau, dass La Bouche der einzige Schiffskapitän ist, der dazu bereit wäre, mit so einer Mission Madagaskar anzusteuern …«
Charpentier verstummte.
»Ich weiß, dass es nicht einfach wird.«
»Sie werden dich auf ein Schiff bringen, welches in Richtung Bengalen aufbricht.«
Er rieb sich die Augen.
»Wer ist noch dabei?«
»Man hat dem Kapitän ein Kommando zugeteilt, das gerade aus Österreich zurückgekehrt ist. Diese Männer haben alle ihre Tapferkeit unter Beweis gestellt, du könntest dir also keine besseren Beschützer wünschen. Das Schiff wird euch nach
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