Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Stadtviertel gemeinsam bewohnt hatten, kam nicht in Frage, da ihn dort jeder kannte. Noch weniger konnten sie den Palast von Mademoiselle de Guise aufsuchen und ebenso wenig das Haus des Schreibers, weil sie nach der Warnung des Meuchelmörders vermuten mussten, dass diese Orte überwacht wurden. Außerdem beschlossen sie, Matthieus Eltern besser in dem Glauben zu lassen, ihr Sohn befände sich noch immer in der Bastille. Dies war zwar grausam, aber notwendig. Charpentier würde ihnen zu gegebener Zeit alles erklären.
»Die Kammer neben der Sakristei in Saint-Louis …«, schlug Matthieu schließlich vor.
Das erschien ihnen eine gute Idee, also machten sie sich auf den Weg zum Gotteshaus, das verlassen dalag. Sie durchquerten das Kirchenschiff und betraten die Sakristei, wo Charpentier direkt auf zwei Quadersteine zuhielt, zwischen denen sich eine kleine Öffnung befand. Er zog einen Schlüssel heraus und öffnete damit eine unauffällige Tür. Als sie das Zimmerchen betraten, das nur selten benutzt wurde, schlug ihnen muffiger Weihrauchgeruch entgegen. Vergleiche mit seiner Gefängniszelle wollte Matthieu lieber vermeiden. Hier gab es eine Pritsche und einen Stuhl mit der Bibel. Auf dem Boden thronte eine erloschene Kerze auf einem Häufchen geschmolzenem Wachs.
»Morgen bringe ich dir etwas zu essen und eine Decke«, versprach der Komponist, während er das kleine Fenster untersuchte, das auf Höhe der Deckenbalken als Luftloch diente. »Du darfst dein Versteck bis zu meiner Rückkehr nicht verlassen. Es ist nur zu deiner eigenen Sicherheit …«
»Ich wüsste auch gar nicht, wohin ich gehen sollte.«
Sie umarmten sich heftig. Als sie sich verabschiedeten, betrachtete Charpentier seinen Neffen mit all der Liebe, die er in seinen Blick zu legen vermochte.
»Danke …«, sagte Matthieu leise.
»Wofür?«
»Dafür, dass Ihr mir helft und mir damit die Gelegenheit gebt, dem Tod meines Bruders einen Sinn zu verleihen. Und dafür, dass ich nun endlich einmal etwas für meine Eltern tun kann.«
Der Komponist konnte kein Wort hervorbringen, ohne seine Rührung zu zeigen.
»Ich bin bald wieder zurück, keine Angst!«
»Onkel«, rief Matthieu ihn zurück, »ich will nur noch eines wissen …«
»Du kannst mich alles fragen.«
»Warum habt Ihr Jean-Claude ausgewählt?«
Charpentier schluckte.
»Diese Entscheidung lag nicht in meiner Hand …«
Der junge Mann bereute seine Frage augenblicklich.
»Es tut mir leid.«
Charpentier ging nicht darauf ein.
»Ich habe immer gedacht, dass die göttliche Vorsehung dir mehr Genialität geschenkt hat, als einem einzigen Menschen zusteht, und dass du deshalb noch äußere Reize brauchst, um dich zu verwirklichen und glücklich zu werden. Dein Bruder Jean-Claude verfügte zwar nicht über dein künstlerisches Talent, war aber ebenfalls ein sehr begabter junger Mann. Er hatte es verdient, wenigstens einmal in seinem Leben im Mittelpunkt von etwas ganz Besonderem zu stehen.«
Kaum hatte der Komponist diesen Satz zu Ende gesprochen, verließ er den Raum. Er schloss die Tür von außen ab und nahm den Schlüssel mit. Matthieu ließ sich auf die Pritsche fallen und starrte die Decke an. Die angestaute Müdigkeit überkam ihn wie eine Schlammlawine und erstickte das Licht und alle Laute. Das war für ihn perfekt, er wollte nur noch schlafen.
Schlafen …
Doch so einfach war das nicht. In diesem Moment der Entspannung erschien auf einmal Nathalie vor seinem inneren Auge. Er sah zu dem Fensterchen hinüber.
Einen Moment lang überlegte er, sich daran hochzuziehen, sich irgendwie hindurchzuquetschen, hinunterzuspringen und zu ihr nach Hause zu laufen. Nathalie … Ihm kam das Kleid in den Sinn, das sie am Abend in der Orangerie getragen hatte. Wie wunderschön sie darin ausgesehen hatte. Und welch große Angst sie wohl gerade durchlebte! Wie hatte er nur beschließen können, dieses Schiff zu besteigen, ohne vorher mit ihr zu sprechen! In was für einen Menschen hatte er sich bloß verwandelt, in einen ganz anderen Mann als der, in den sie sich verliebt hatte! Liebte sie ihn wirklich? Es nicht zu wissen machte ihn ganz verrückt. Er wälzte sich auf seinem Lager hin und her und hielt es kaum ein paar Sekunden in einer Haltung aus. Sollte er sie um Verzeihung bitten? Sollte er sich ihr ein für alle Mal hingeben? Er wollte sich für immer an ihrer Seite zusammenrollen wie ein Küken unter dem Flügel seiner Mutter, um die Augen zu schließen und sich mit ihr gemeinsam im
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