Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Lächeln seine abgezehrten Züge. Es war wie ein Wiedersehen mit seinem Seelenbruder, als atmete er ihn mit der Musik im Raum ein, als würde er in die Zeit vor dem Unglück zurückkehren und wieder seine Wärme und Kraft spüren.
Frankreichs Herrscher konnte die Emotionen, die diese teuflisch süße und doch aufwühlende Musik in ihm auslöste, kaum verbergen. Sie durchdrang seinen Körper und traf ihn mitten ins Herz, an einer verwundbaren Stelle, deren Existenz er sich bislang nicht einmal bewusst gewesen war. Er wagte nicht zu blinzeln, denn nur so konnte er seine Tränen zurückhalten.
»Es ist beschlossen«, verkündete er, noch bevor Matthieu das Stück zu Ende gespielt hatte.
Charpentier wollte versuchen, den König irgendwie umzustimmen, aber er hatte einfach keine Kraft mehr, und seiner Kehle entfloh lediglich ein untröstliches Seufzen. Andererseits war er sich auch dessen bewusst, dass nur jemand mit Matthieus Fähigkeiten dazu in der Lage war, alle Feinheiten der Melodie zu erkennen und sie mit absoluter Präzision zu transkribieren. Nun griff Minister Louvois ein, um dafür zu sorgen, dass keine äußeren Umstände eine Entscheidung gefährden würden, die ihn mit so tiefer Genugtuung erfüllte.
»Euer Herrscher hat sich klar und deutlich ausgedrückt. Versteckt Euren Neffen an einem sicheren Ort, während wir für die Mission einen Kapitän suchen und einen Schoner der Kompanie mit allem für die Reise Notwendigen beladen lassen.«
»Also muss ich nicht zurück in die Bastille …«, wagte Matthieu einzuwerfen.
»Im Augenblick nicht«, erwiderte der Souverän gehässig.
»Mein Gott, was habe ich nur getan?«, klagte Charpentier.
»Wir geben Bescheid, sobald das Schiff bereit zum Auslaufen ist.«
»Wir müssen uns beeilen …«, bemerkte Louvois, der an die von Jean-Claudes Mördern vorgegebene Zeitspanne dachte.
»Uns bleiben noch etwa sieben Monate«, stellte der König fest. »Das Schiff wird mehr als genug Zeit haben, diese teuflische Insel anzusteuern und wieder zurückzukehren. Geht jetzt!«, befahl er schließlich, denn die Melodie hatte ihn in ein Gefühlschaos gestürzt, das ihn nach wie vor verunsicherte.
Matthieu legte die Geige auf einen Tisch und schloss abermals die Augen, nur eine Sekunde lang. In seinem Kopf klang noch immer das Duett nach. Er stellte sich vor, wie er an Bord eines Schiffes stand, das von den Wellen hin- und hergeschleudert wurde, wie er auf dem Weg zum Kap der Guten Hoffnung den schwarzen Kontinent umrundete, auf der Suche nach der Melodie vom Ursprung. In diesem Moment erschien ihm das Kuriositätenkabinett auf einmal winzig. Die Prunkstücke, die ihn umgaben, wirkten plötzlich wie bunte Glassteine, die Gemälde waren nichts als vollgeschmierte Leinwände, und die Kleider und die Perücken dünkten ihm mit einem Mal lächerlich. Ganz Versailles kam ihm nun grotesk vor, ein Palast, der nichts weiter war als das Ergebnis unverhältnismäßiger, aber leider allzu menschlicher Gier.
20
B evor Matthieu den Palast verließ, verbarg er das Gesicht erneut unter der Kapuze eines Mantels. Er stieg mit seinem Onkel in den Wagen, der ihn auf dem mit Marmor ausgekleideten Platz erwartete. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und die Hufe der Pferde klapperten auf der glatten Oberfläche. Begleitet vom düsteren Krächzen nächtlicher Vögel, fuhren sie in den Wald hinein. Matthieu schloss die Lider. Die Ereignisse waren so unglaublich schnell aufeinandergefolgt, dass er das Gefühl hatte, die Vergangenheit vermische sich mit der Gegenwart und beide wiederum mit der unmittelbaren Zukunft. In einem Moment sah er sich schon an Bord des Schiffes, die Arme auf der Reling aufgestützt, im nächsten wähnte er sich wieder in der Bastille, und bald war er einige Sekunden lang wirklich davon überzeugt, dass eigentlich gar nichts geschehen war und sein Bruder zu Hause auf ihn wartete, um mit ihm eine neue Position der Finger zu üben. Er sah seine Eltern neben dem Kamin stehen und sich an den Händen halten – dieses Bild ging ihm nicht aus dem Sinn. Ein Schlagloch holte ihn in die Wirklichkeit der Kutsche zurück, und sein Blick begegnete dem Charpentiers. Es war, als würde er in einen Abgrund schauen.
Damit Jean-Claudes Mörder keinen Verdacht schöpften, musste geheim gehalten werden, dass Matthieu wieder frei war. Die beiden Männer zerbrachen sich den Kopf, um ein geeignetes Versteck für ihn zu finden. Das Zimmerchen, das die beiden Brüder in einem kleinen
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