Das geheime Lied: Roman (German Edition)
empfindet trotzdem noch immer die Notwendigkeit zu glauben. Er will daran glauben, dass es der Menschheit gelingen kann, ihre Seele vom Blei zu befreien, damit sie rein und glänzend wie Gold aus der Asche emporsteigt. Und die Zeit hat ihm die Melodie vom Ursprung geschenkt. Jetzt geht es darum, nicht vom Streben abzulassen, den Weg nicht zu verlassen, den wir vorgezeichnet haben. Denk immer an Senecas Worte: Wer nicht weiß, welchen Hafen er ansteuert …«
»… für den ist kein Wind ein günstiger.«
»Hör niemals auf, an die Musik zu glauben. Verwandle die Suche nach dieser Melodie in dein Schicksal, und die Zeit wird dir zeigen, was ihre Noten für dich bereithalten.«
»Passt gut auf Euch auf«, bat ihn Matthieu liebevoll. »Und beschützt meine Eltern bis zu meiner Rückkehr. Das werdet Ihr doch tun?«
»Das hätte ich ja fast vergessen!« Charpentier zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche, dasselbe, das er Newton damals in der Küche im Palast der Duchesse hatte zurückgeben wollen.
»Was ist das?«
»Ein alchemistisches Rätsel.«
»Und was soll ich damit anfangen?«
»Newton will es zwar nicht zugeben, aber ich bin davon überzeugt, dass es sich dabei um das letzte Glied der Kette handelt.«
»Ihr meint also, dass es etwas mit der Melodie vom Ursprung zu tun hat?«
»Ja, und er denkt das auch. Er hat immer gesagt, dass es nichts nützt, die Partitur korrekt niederzuschreiben, wenn man nicht gleichzeitig das Geheimnis ergründet, das hinter diesen Zeilen steckt. Und obwohl dies wie der einfachere Teil des Unterfangens wirkt, hat er bislang keine befriedigende Lösung gefunden.«
Matthieu wurde klar, dass er sich nun in Newtons Augen verwandeln und bald den Zauber jener Insel erblicken würde, auf welcher der Engländer die Melodie ausfindig gemacht hatte.
»Woher stammen die Verse?«
»Glaubst du etwa, dass er mir das verraten hat? Nicht einmal Dr. Evans kennt die ursprünglichen Quellen seiner Entdeckungen. Vielleicht stammen sie aus dem Kompendium über die Seele von Avicenna oder aus dem Atalanta Fugiens von Michael Maier, aus Werken, die wir im Palast der Duchesse so naiv analysiert haben. Newtons Verstand ist so mächtig, dass er alle Texte im Kopf hat, die seit der Geburt der Alchemie geschrieben wurden.«
Matthieu wollte das Pergament auseinanderfalten, Charpentier gebot ihm jedoch Einhalt.
»Was ist denn?«
»Lies es nicht, bevor du in Madagaskar anlangst.«
»Warum?«
»Vielleicht konnte Newton es nicht begreifen, weil der Sinn des Rätsels durch die faulige Luft verfälscht wird, die wir hier einatmen …«
Matthieu nickte und schob das Papier in die Tasche mit den Notenblättern. Ohne ein weiteres Wort warf er seinem Onkel einen innigen Blick zu und schloss die goldene Tür des Wagens genau in dem Moment hinter sich, als der Kutscher die Tiere antrieb.
ZWEITER AKT
1
V ierundzwanzig Hufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster …
Seit die Kutsche die rebellische Stadt ansteuerte, wie La Rochelle in Paris genannt wurde, durchlebte Matthieu jeden einzelnen Kilometer als einen wichtigen Teil seines Abenteuers. Orleans, Blois, Amboise, Tours, Poitiers … Während dieser unendlichen Tagesrouten bis zum Meer musste er an die Geschichten von Seefahrern denken, die er gelesen hatte, und an all die Entbehrungen, die eine so lange Zeit auf See mit sich brachte.
Aber vor allem verspürte er angesichts all der unerwarteten Emotionen einen Kloß im Hals. Warum hatte er nur das Gefühl, dass hinter dieser Reise zur Rettung seiner Eltern und seines Onkels so viel mehr steckte? Er konnte sich nicht vorstellen, was er im unberührten Dschungel Madagaskars und in den Tiefen seines Herzens wohl entdecken würde. Vielleicht würde er seine Herkunft ergründen können so wie Amadis de Gaule. Der Ursprung, das unberührte Land, die Melodie, der er das Leben verdankte, seine eigene Melodie … Vielleicht aber hatte seine Ergriffenheit viel mehr damit zu tun, dass er nun alles zurückließ, was er bisher kannte?
Als die Kutsche La Rochelle erreichte, dachte Matthieu an die Albatrosse, die er von Zeichnungen her kannte, an die Delphine, die an windstillen Tagen um den Kiel herumtollen würden, und er fragte sich, ob die fliegenden Fische an den Küsten des Südens wohl bloße Legende waren. Er konnte an nichts anderes mehr denken als daran, endlich an Bord zu gehen, und hatte deshalb keine Augen für die Stadtmauern, die Menschen, die mit Waren schwer beladen kamen und gingen, und auch
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