Das geheime Lied: Roman (German Edition)
nach vorn antreten. Alle auf dem Schiff sollten ihn so kennenlernen, wie er wirklich war, und wenn er dafür jeden einzelnen von ihnen allein ansprechen musste. Am Nachmittag sah er den Frachtaufseher ein wenig abseits an Deck stehen und versuchte sein Glück. Er ging zu ihm hinüber und fragte ihn nach Bengalen. Seitdem sich die Kompanie in der südasiatischen Region eingerichtet hatte, so war ihm zu Ohren gekommen, kamen und gingen dort ohne Unterlass französische Schiffe, da es sich um eine unerschöpfliche Quelle der exotischsten Produkte handelte. Der Frachtaufseher schaute sich nach beiden Seiten um und antwortete ihm dann, dieses Mal weniger wortkarg.
»In diesem Schiffsraum haben wir mit Sicherheit ein Dutzend Tiger transportiert«, erklärte er und bezog sich damit auf eine altbekannte Marotte des Königs. »Nur schade, dass keiner von ihnen die Reise bis nach Versailles überlebt hat.«
»Die armen Tiere …«, antwortete Matthieu, dachte dabei jedoch eher an sich selbst.
»Ich hoffe, du hältst mehr aus als diese Bestien«, knurrte der Frachtaufseher, plötzlich wieder schlecht gelaunt.
»Legt Ihr immer dieselbe Strecke zurück?«, fragte Matthieu weiter, ohne sich abschrecken zu lassen.
»Seit 1673. Ich habe früher schwarzes Vieh in die Karibik gebracht.«
Matthieu zuckte zusammen. Die Arbeit von Menschenhändlern hatte er nie in Frage gestellt, weil er sie nicht einmal als einen Teil der Welt betrachtet hatte, in der er lebte. Aber es gab sie, und auf einmal stand er hier und sprach mit einem von ihnen. Die Eroberung der Neuen Welt erforderte viele Arbeitskräfte, und da es nicht erlaubt war, die Eingeborenen zu Sklaven zu machen, musste man diese eben aus Afrika importieren. Der größte Teil von ihnen stammte aus der Savanne zwischen dem Wüstensand der Sahara und den grünen Landstrichen von Gambia. Matthieu blickte wieder nach Backbord. Bis zur Küste waren es nur wenige Meilen, sie waren also nur einen Steinwurf von den Dörfern der Eingeborenen entfernt.
»Wo habt Ihr diese Menschen gekauft?«
Der Frachtaufseher schaute ihn verwundert an.
»Weißt du etwa nicht, wo wir als Nächstes vor Anker gehen?«
»Im Hafen hat jemand Saint-Louis erwähnt.«
Das war die erste französische Siedlung auf afrikanischem Boden. Sie konnte nicht mehr weit sein.
»Daran sind wir längst vorbei. Saint-Louis wurde schon in der Nacht gesichtet.«
»Aber …«
»Dieses Schiff macht dort für gewöhnlich Halt, der Kapitän hat jedoch etwas anderes angeordnet.«
»Wohin geht es dann?«
Der Frachtaufseher begann, eine Leine aufzuschießen.
»Ich kann jetzt nicht reden«, beendete er die Unterhaltung und versank wieder in das allgemeine Schweigen.
Nun fühlte sich Matthieu bei dieser Expedition, die doch gerade erst begonnen hatte, endgültig ausgeschlossen. Er sah sich nach dem Kapitän um. Er fand ihn auf dem Achterkastell, wo er beim Ruder auf einem Fass hockte. Sein Freund Catroux steuerte den Schoner. Die beiden schauten einer Schar Pelikane zu, die mit dem Wind zwischen den Masten spielten und sich ins Wasser stürzten, um kurz darauf mit einem Fisch im Schnabel wieder aufzutauchen.
»Wohin fahren wir?«, fragte Matthieu mit lauter Stimme, während er die Stufen hinaufstieg.
»Was meinst du?«, entgegnete der Kapitän, ohne den Blick vom Himmel abzuwenden.
»Wir hätten in Saint-Louis einen Zwischenhalt einlegen sollen. So war es geplant …«
»Die Pläne haben sich eben geändert. Wir steuern jetzt Gorée an«, informierte ihn La Bouche kurz angebunden.
»Gorée …?«
Matthieu hatte noch nie von diesem winzigen Eiland gehört, das im Atlantikraum als Zentrum des Sklavenhandels galt.
»Eine Insel«, erklärte La Bouche. »Ich habe dort einige Angelegenheiten zu regeln, bevor wir weiterfahren.«
Matthieu war über den verächtlichen Tonfall des Kapitäns erstaunt. Dies war seit Beginn der Reise das erste Mal, dass er so mit ihm sprach und ihn dabei nicht einmal ansah.
»Ich denke doch, dass ich über solche Dinge informiert werden sollte …«, erwiderte er und versuchte, dabei möglichst autoritär zu klingen.
Jetzt drehte sich der Kapitän dann doch zu ihm um.
»Informiert? Worüber?«, rief er wütend aus. »Kümmer du dich nur um deine Geige und lass uns unsere Arbeit machen.«
Der Bootsmann versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, konnte aber ein Schnauben nicht unterdrücken.
Ein Pelikan flog dicht an ihren Köpfen vorbei. Er krächzte, als wollte er die abgelenkte
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