Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Aufmerksamkeit des Kapitäns zurückerlangen. Dieser wandte sich wirklich ab, um den Flug des Vogels weiter zu beobachten. Damit hatte Matthieu nicht gerechnet. Er war davon überzeugt, dass er sich seine Schikanen die ganze Überfahrt lang gefallen lassen musste, wenn er dem Kapitän dies schon zu Anfang der Reise durchgehen ließ, daher zögerte er nicht einen Moment, ihm die Stirn zu bieten.
»Ihr seid nur meinetwegen hier«, verkündete er mit strenger Stimme. »Vergesst das nie!«
Das Gesicht des Kapitäns erstarrte. Der Bootsmann zog eine Miene, die Matthieu nicht ergründen konnte, und brach schließlich in lautes Gelächter aus, in das La Bouche umgehend mit einfiel.
»Schneid hat er ja!«, rief Catroux aus. »Wenn Ihr ihm nicht auf die Finger seht, Kapitän, dann übernimmt er hier an Bord bald das Kommando!«
»Solche Leute sind mir die liebste Gesellschaft und erst recht, wenn sie sich mit mir auf der roten Insel durchschlagen müssen! Komm her!«, bat er Matthieu, dieser rührte sich jedoch nicht vom Fleck. »In Ordnung, Monsieur, ich stehe ja schon auf!«, gab er endlich unter Gelächter nach.
Der Kapitän legte dem jungen Musiker den Arm um die Schultern und trat mit ihm an die Heckreling. Am Horizont ging die Sonne unter und warf einen orangefarbenen Streifen auf das ruhige Wasser.
»Ich befahre dieses Meer schon seit vielen Jahren«, erklärte er.
»Diesen Verdienst will ich Euch ja auch gar nicht absprechen.«
»Damit will ich sagen, dass man den Sinn für die Feinheiten verliert, wenn man den ganzen Tag Befehle brüllt, und besonders dann, wenn es sich nicht um das eigene Schiff handelt. Ich muss mich vor einer Besatzung behaupten, die mich noch nicht als einen der Ihren anerkennt.«
»Ich verlange ja auch nicht, dass Ihr mich wie eine Hofdame behandelt«, entgegnete Matthieu, der inzwischen beschlossen hatte, sich nicht länger unnachgiebig zu zeigen, wenigstens nicht in diesem Moment. »Ich möchte doch nur, dass alles nach Plan verläuft. Wenn wir zum vorgesehenen Datum nicht wieder in Paris sind, war alles umsonst.«
»Wir werden pünktlich zurückkehren«, versprach der Kapitän.
»Dann lasst uns diesem Missverständnis ein Ende machen und gemeinsam etwas essen.«
Dieser Satz hatte auf La Bouche den von Matthieu erwünschten Effekt. Die beiden waren nun nicht nur wieder versöhnt, der Kapitän zeigte sich ihm gegenüber auch viel offener als bisher.
»Ich treibe auf Gorée Sklavenhandel, mir gehört dort ein kleines Unternehmen«, verriet er ganz ungerührt. »Es untersteht Madame Serekunda, einer jungen Mulattin. Mit ihrer wilden Mischung aus europäischem und afrikanischem Blut hat diese Frau schon lange das Herz des Seemanns erobert, der hier vor dir steht. Wenn du sie erst siehst, wirst du es verstehen!«
»Ich möchte nur über die Einzelheiten der Mission informiert sein und über alles, was sie gefährden könnte«, stellte Matthieu bescheiden klar, um sich vollends der Sympathie des Kapitäns zu versichern. »Was Ihr in der Zwischenzeit tut, geht mich nichts an.«
»Ich werde es berücksichtigen«, konstatierte La Bouche förmlich. »Aber ich bestehe trotzdem darauf: Um die Sache wiedergutzumachen, lade ich dich für morgen Abend zum Essen bei uns ein und zeige dir das Geschäft. Madame Serekunda hat so gern Besuch.« Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Und wenn du außerdem noch etwas auf deiner Geige spielst …«
Gorée war als Sklaveninsel bekannt. Nachdem sie ein Jahrhundert zuvor von den Portugiesen entdeckt worden war, hatten europäische Regierungen auf ihren kaum neunhundert Metern Länge Warenlager eingerichtet, um Glasperlen, Stoffe, eiserne Werkzeuge und gelegentlich auch Waffen gegen Gold, Elfenbein, Gewürze und Straußenfedern einzutauschen. Nach der Niederlassung im nahen Saint-Louis an der Küste hatte Frankreich auf diesem Fleckchen Erde begeistert den Sklavenhandel vorangetrieben und die Insel so zu einer Stätte des Grauens gemacht. Der Hof Ludwigs XIV . gestattete Menschenhandel nicht nur, sondern verteidigte seine Bastion auch mit allen Mitteln vor den Angriffen der Engländer und Holländer. Gorée hatte von Natur aus die Form einer Festung und lag für Schiffe, die Schutz vor Unwetter suchten oder Boote zu ihren weißen Sandstränden schicken wollten, ideal.
Die Insel kam am Nachmittag des nächsten Tages in Sichtweite. Der Kapitän kannte jeden Zentimeter des Ufers und die besten Plätze, um dort vor Anker zu gehen. Catroux stand an der
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