Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Reling, um den Meeresgrund auszuloten. Nachdem er überprüft hatte, dass es hier keine Felsen gab, ließ er den Anker werfen. An Bord begann man, die Segel einzuholen und die Klüver für das Wendemanöver vorzubereiten, um dann beigedreht zu bleiben. Matthieu verließ seine Kajüte und blickte nach Backbord. Es würde ihm sicher guttun, für ein paar Stunden festen Boden unter den Füßen zu haben, da sich ihm dazu bis zu ihrer Ankunft am Ziel sicher keine Gelegenheit mehr bieten würde.
Der Kapitän befahl, nur ein einziges Boot fertig zu machen. Er wollte für eine so harte Reise die Besatzung beisammenhalten und erlaubte den Männern deshalb nicht, an Land zu gehen. Auf Gorée kam es oft zu Reibereien, bei denen nicht selten Matrosen ihr Leben ließen. Einzig La Bouche verließ den Schoner, begleitet von den Ruderern und drei Soldaten, die ihm als Leibwache dienten. Matthieu setzte sich im Kahn zwischen sie.
Am Ufer sahen sie von weitem ein Schiff mit frisch abgeschabtem und kalfatertem Kiel.
Der Landeplatz roch nicht nach Fisch. Er roch nach Rost und Schweiß.
3
D ie Eisenketten schlugen gegen die steinerne Mole, und das Weinen der Sklavenkinder erinnerte an ein Klagelied aus einer anderen Dimension. In einem zynischen Kontrast rankte eine üppige Bougainvillea an den Wänden der Häuser, die einen Sandweg säumten. Die Insel war ein riesiger, mit Blut gedüngter Garten. Matthieu verspürte mehr Verwunderung als Abscheu. Bislang hatte er keine dunkelhäutigen Menschen zu Gesicht bekommen außer ein paar Pagen des Königs mit Pluderhosen und bunten Schleifen wie der madagassische Eingeborene, den La Bouche von seiner letzten Expedition mitgebracht hatte. Jahrelang war er in Versailles eine Attraktion für die Adligen gewesen, und nun reiste er wieder in seine Heimat, um für sie als Übersetzer zu fungieren. Er glich in nichts den Schwarzen, die sie nun umgaben und Rücken an Rücken mit einem Eisenring um den Hals dasaßen. Fliegen labten sich an der blutigen Haut, die die Ketten aufgescheuert hatten. Die Sklaven warfen sich gegenseitig Blicke zu, während die Händler zwischen den Gruppen hin und her gingen und ihnen in den Mund sahen, um das Gebiss zu überprüfen. Von den freien Eingeborenen boten sich den Seeleuten einige Frauen am Eingang ihrer Hütten an, die etwas weiter im Inneren der Insel einen Halbmond aus strohgedeckten Dächern bildeten. Auf Gorée schien Chaos zu herrschen, in Wirklichkeit aber hatte wie auf jedem anderen Markt auch alles seine Ordnung und seinen Preis.
Der Kapitän hielt auf ein Wächterhäuschen zu. Zwei Soldaten traten heraus und begrüßten ihn respektvoll. Er antwortete mit beifälligen Worten, übergab ihnen seine Papiere und einen Beutel mit Münzen.
Jeder Winkel der Insel wurde von der Miliz kontrolliert. Links vom Hafen nahm eine Festung auf einem Felsmassiv etwa ein Drittel ihrer Fläche ein. Matthieu fielen die Soldaten auf, die dort Wache hielten, und er musste an die Männer denken, die von den Zinnen der Bastille aus auf ihn herabgeblickt hatten, als er an den Karren gekettet über die Zugbrücke gefahren war.
Er folgte Kapitän La Bouche durch eine enge Gasse. Bald darauf hatten sie Madame Serekundas Haus erreicht. Es war nicht das einzige Sklavenlager auf der Insel, aber unter all denen, die Matthieu auf dem Weg hierher gesehen hatte, das größte. Es war deutlich erkennbar in zwei Bereiche unterteilt. Im ersten Stock lagen die Wohnräume der Mulattin und die Unterkünfte der Dienstboten, während sich im Erdgeschoss die Zellen befanden. Vor dem Haus gab es ein Rondell, auf dem die Versteigerungen abgehalten wurden. Das Gebäude wirkte beinahe wie eine römische Gladiatorenschule, allerdings hätte man es auf Gorée für Verschwendung gehalten, dass sich Neger gegenseitig umbringen.
Sie gingen durch das Tor. Vom runden Vorhof aus führte eine Treppe nach oben in den ersten Stock, und dort stand Serekunda stolz aufgerichtet am Geländer. Das in Paris geschneiderte Kleid unterstrich ihre üppige Figur noch. Ihre Haltung zeugte von Hochmut, aber auch von unwiderstehlichem Charme, der ihr bei der Leitung der Geschäfte mit Sicherheit von großem Nutzen war. Als der Kapitän ihren Namen aussprach, verflog all das Kühle an ihr. Sie stürmte die Treppe herunter, um sich ihm in die Arme zu werfen, und küsste ihn mitten auf dem Rondell, damit es auch jeder sah.
La Bouche stellte ihr Matthieu vor. Sie begrüßte ihn mit der Gewandtheit und Höflichkeit einer Dame
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