Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Seite drehen. Er bekam den Schlag mit voller Wucht ab, rollte sich schützend zusammen und hielt sich die Schläfen. Der Kapitän wandte sich an einen Matrosen, der damit beschäftigt war, die Taue der Wassertonne festzuzurren.
»Hilf mir, ihn in die Kabine zu bringen!«
Sie hatten nicht mehr die Gelegenheit dazu. Im selben Augenblick bäumte sich eine neue Welle auf, vielleicht die höchste von allen, die in dieser Nacht über das Deck gefegt waren, ließ das Schiff krängen, so dass es beinahe gekentert wäre, und riss Matthieu mit sich. La Bouche musste sich an einen Mast klammern. Durch den Regen versuchte er zu erkennen, wo der Musiker gelandet war. Er glaubte bereits, ihn verloren zu haben, als er ihn schließlich am anderen Ende des Decks ausmachte. Er hing backbord an der Außenseite des Schiffes und umklammerte die Reling mit beiden Händen. Zwei Seemänner in seiner Nähe taten so, als hätten sie ihn nicht gesehen, und hangelten sich an einem Tau entlang in die entgegengesetzte Richtung, um ein herabgestürztes Segel zusammenzufalten. La Bouche befahl ihnen, umzukehren und dem Musiker zu helfen, im Tosen des Sturms waren seine Rufe aber kaum zu hören. Matthieus Finger begannen abzugleiten. Der Kapitän wusste, dass er keine andere Wahl hatte, also warf er sich mit einem Schrei in Richtung Reling. Wieder wurde der Frachter hin und her geschüttelt, und La Bouche verlor das Gleichgewicht. Er wurde mit Wucht gegen einen Mast geschleudert und blieb auf dem Gitter des Luftschachtes zum Frachtraum liegen. Von dort aus beobachtete er mit Entsetzen, dass der Musiker keinen Widerstand mehr leistete, eine Hand löste und sich fallen lassen wollte …
Genau in diesem Augenblick erschien wie aus dem Nichts ein riesiger Schatten, beugte sich über die Reling und packte Matthieu an den Armen.
»Nicht zu fassen …«, murmelte La Bouche.
Es war der Griot, der in letzter Sekunde herbeigeeilt kam, als ob er auf einmal erwacht und unter die Lebenden zurückgekehrt sei, um eine höhere Bestimmung zu erfüllen.
Der Sklave stieß einen unmenschlichen Schrei aus und wuchtete Matthieu nach oben, so wie dieser es Tage zuvor bei ihm getan hatte, um ihn nicht den Tiefen der Bucht zu überlassen. Jetzt war auch der Kapitän zur Stelle und half dem Sklaven, Matthieu bis zu seiner Kabine zu schleppen. Dabei konnte er den Blick kaum von den elfenbeinfarbenen Augen des Griot abwenden.
Sie legten den zitternden Musiker auf seine Pritsche. Der Griot ließ sich auf dem Fußboden nieder, La Bouche verließ wortlos den Raum, legte einen Hebel vor, um die Tür von außen zu verschließen, und ging wieder an Deck.
6
M atthieu erwachte mit Blick auf das Fenster aus Bleiglas. Das Sonnenlicht stach ihm in die Augen, aber die Lichtreflexe der Wappenlilie störten ihn nicht mehr. Er ging die letzten Geschehnisse in Gedanken mehrmals durch, um sich davon zu überzeugen, dass nicht alles nur ein Traum gewesen war. Dann sah er sich um und entdeckte den Mann, den er hier am wenigsten erwartet hätte.
Der Griot saß auf dem Fußboden in derselben Haltung, in der Matthieu selbst im Frachtraum stundenlang neben dem Afrikaner gewacht hatte. Dieser hatte den schmutzigen Verband von seiner Wunde entfernt.
»Ich kenne deinen Namen gar nicht«, sagte der Musiker zu ihm und versuchte, sich mit Gesten verständlich zu machen.
»Nenn mich Griot«, erwiderte sein Gegenüber kurz angebunden, aber in gutem Französisch. »Ich habe keinen anderen Namen mehr.«
Mit dieser Antwort in seiner eigenen Sprache hatte Matthieu nicht gerechnet.
»Ich wollte mich nur bedanken«, entgegnete er entschuldigend.
»Ich bin stolz darauf, ein Griot zu sein«, erklärte der Sklave in etwas freundlicherem Ton. Seine kehlige Stimme schien aus den Tiefen der Erde zu stammen. Jedes Wort floss wie ein Lavastrom von den breiten Lippen, die sich kaum bewegten. »Alles, was ich sonst noch war, verbrannte in den Flammen, die mein Dorf zerstörten.«
»Du hast mich schon zweimal gerettet … Ich stehe in deiner Schuld.«
»Du hättest mich nicht aus dem Wasser ziehen sollen.«
Matthieu richtete sich auf.
»Du beherrschst meine Sprache gut.«
»Ich habe mehr Zeit mit Franzosen verbracht als mit meinen Brüdern«, antwortete der Griot, ohne diese Information näher auszuführen.
»Wenn du das in Gorée schon gesagt hättest, hätte man dir sicher erlaubt, dortzubleiben und irgendeine Arbeit auszuführen.«
»Wozu?«
Matthieu sah ihm in die Augen.
»Um zu
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