Das geheime Lied: Roman (German Edition)
hoch in die Luft und übersäte das Deck mit scharfkantigen Muscheln.
»Gott, wie bin ich nur hier hineingeraten?«, schrie Matthieu. »Warum lässt du mich bloß wieder und wieder dem Tod ins Auge sehen?«
Er umklammerte weiterhin mit aller Kraft das Tau. Vor Kälte und Anstrengung zitterten ihm die Hände. Seine Kleidung war völlig durchnässt, das schwarze Haar klebte ihm im Gesicht, und die Lippen waren vom Salz aufgesprungen. Er war kein Feigling, und dennoch wirkte er jetzt wie ein winziges verängstigtes Tier. »Ich bin nur ein dummer kleiner zweitklassiger Musiker, der den Sonnenkönig beeindrucken wollte«, wiederholte er sich immer wieder. Ihm kamen die Vorfälle in der Orangerie in den Sinn, allerdings gelang es ihm nicht, sich selbst als Hauptfigur in diesem Drama zu sehen. Stattdessen dachte er an Lully, der ihm so fern schien, beinahe wie eine Karikatur, und spürte den Hauch der Orgelpfeifen, unter denen er an Regentagen mit Nathalie tuschelte, während im Hintergrund die Gläubigen flüsterten.
»Was tue ich hier bloß?«, fragte er sich wieder und schleuderte dem Unwetter einen herzerweichenden Schrei entgegen.
Doch auf einmal war da noch etwas anderes mitten im Sturm.
Ein neuer Klang.
Matthieu öffnete die Augen und versuchte, durch das Brennen und das Unwetter hindurch etwas zu erkennen. Er spitzte die Ohren. Die Segel, die so viele Flicken trugen, wie sie Schlachten hinter sich hatten, bäumten sich auf. Einem der Seeleute entglitt das Manntau, und er fiel über Bord, ohne dass seine Kameraden irgendetwas tun konnten, um ihn zu retten. Matthieu bekam es nicht einmal mit. Unbewegt blieb er stehen im Vertrauen darauf, noch einmal jenes Geräusch zu vernehmen, das er mehr erahnt als wirklich gehört hatte. Er erschauderte, als es in all seiner Herrlichkeit zu ihm drang, sich langsam den Weg durch das Gewitter bahnte. Es klang wie Gesang …
Das musste sie sein, die afrikanische Priesterin aus den Erzählungen. Sie hieß ihn willkommen, bot ihm ihre jungfräuliche Kehle dar, aus der sich die Melodie vom Ursprung ergoss! Die Stimme kam immer näher, Matthieu konnte beinahe die Hand nach ihr ausstrecken. Er richtete sich auf, warf sich an Steuerbord in Richtung Reling und brüllte mit aller Kraft: »Wo bist du? Sing für mich! Sing, damit ich dich finden kann!«
La Bouche, der dem Steuermann seit Beginn des Sturms nicht von der Seite gewichen war, wankte, so gut es ging, heran. Er packte den Musiker von hinten, da er überzeugt war, dass sich dieser in die Fluten stürzen würde.
»Du bist ja wahnsinnig! Geh zurück in deine Kabine!«
»Lasst mich los, Kapitän!«, kreischte Matthieu und versuchte vergebens, sich zu befreien.
»Geh jetzt unter Deck, wenn du die heutige Nacht überleben willst!«
»Sie ist da!«, schrie Matthieu, während ihm über die Reling schwappende Gischt in Mund und Nase fuhr. Er schluckte den Schaum hinunter, brüllte weiter und reckte unter Husten und Würgen den Hals. »Ich habe sie gefunden!«
»Aber von wem redest du denn?«
»Sie ist da! Sie singt für mich!«
»Wir sind fünfzehn Meilen von der afrikanischen Küste entfernt. Wer zum Teufel soll denn hier draußen singen?«
Der Schoner wurde noch immer hin und her geworfen, war ein Spielball der riesigen Wellen. Der Wind pfiff in der Takelage der Masten, ein loses Tau sauste über das Deck und hätte sie fast enthauptet.
»Sing für mich!«, rief der Musiker wieder. Er war sich der Gefahr, in der er schwebte, schon längst nicht mehr bewusst.
»Wenn du stirbst, ist meine Mission hier beendet!«, argumentierte der Kapitän, um Matthieu irgendwie zur Vernunft zu bringen. »In diesem Fall muss das Schiff nach Frankreich umkehren! Wenn du dein Leben schon nicht schätzt, dann tu es wenigstens für mich und geh unter Deck!«
»Sie ist es!«, rief der Geiger abermals und brach in Gelächter aus, als habe er den Verstand verloren.
»Verdammt noch mal, das ist nur das Fieber!«
Mit einem heftigen Ruck riss der Kapitän Matthieu von der Reling los, genau in dem Moment, in dem sich wieder die Gischt über das Heck ergoss. Die beiden Männer fielen zu Boden. Matthieu wollte wieder zum Geländer zurück, er kroch über das Deck und grub dabei die Fingernägel in die hölzernen Bohlen. Der Kapitän war mit seiner Geduld am Ende. Während Matthieu sich aufzurichten versuchte, streckte La Bouche die Hand aus und angelte nach einem Knüppel, der am Besanmast befestigt war. Matthieu konnte nicht einmal mehr den Kopf zur
Weitere Kostenlose Bücher