Das geheime Lied: Roman (German Edition)
erfüllen. Doch nun, am Ziel angelangt, erschien sie ihm auf einmal illusorisch. Wie sollte jetzt der erste Schritt aussehen? Unten am Strand malte der Wind Strudel in den Sand und häufte ihn am Stamm der Palmen auf, die sich über die Gischt beugten.
Newtons Rätselschrift …, dachte er auf einmal.
Er schob die Hand in den Beutel mit der Geige und suchte zwischen den linierten Blättern nach dem Papier, das Charpentier ihm in Paris vor der Kutsche zugesteckt hatte. War nun der Moment gekommen, es zu lesen? Welches Geheimnis verbarg sich hinter jenen wenigen Zeilen, die der Wissenschaftler persönlich kopiert hatte? Endlich war er auf Madagaskar, der Wiege der Melodie vom Ursprung, gewiss war dies der rechte Augenblick.
Mit einem Mal richtete sich La Bouche wieder auf.
»Was ist das?«
»Nichts«, antwortete Matthieu. Ohne genau zu wissen, warum eigentlich, hatte er plötzlich seine Meinung geändert. Er schob den noch immer gefalteten Zettel zurück in die Tasche. »Kapitän Misson hat Euch gebeten, Euch ihm anzuschließen«, bemerkte er unvermittelt.
»Missons Schatten fällt über dieses Meer, seit ich denken kann, länger als die Masten aller anderen Schiffe«, sinnierte La Bouche und blickte aufs Wasser. »Mit diesem Vorschlag hatte ich nicht gerechnet, das kann ich dir versichern.«
»Es ist doch seltsam, dass ich noch nie von ihm gehört habe.«
»Warum solltest du denn von ihm gehört haben?«
»In Pariser Schänken wird oft von französischen Kapitänen gesprochen.«
»Misson ist aber kein Franzose.«
»Der Bootsmann hat doch gesagt …«
»Misson hat seinen Status als Untertan von König Louis schon lange aufgegeben, um Bürger Libertalias zu werden.«
»Gestern habt Ihr diesen Ort auch erwähnt.«
»Niemand weiß genau, wo er liegt. Man glaubt, dass es eine Insel im Norden ist zwischen Madagaskar und den Komoren.«
»Ein Rückzugsort für Piraten …«
»Es ist weitaus mehr als nur das. Es handelt sich um eine richtige Republik, eine utopische Kolonie, in der das Konzept privaten Besitztums nicht existiert und alle Männer gleich sind«, erklärte er und verlieh dem Ende des Satzes einen erzwungenen humorvollen Unterton.
»Unabhängig von ihrer Hautfarbe?«
Der Kapitän starrte ihn an.
»Es handelt sich um einen utopischen Staat«, wiederholte er jetzt ernster. »In jener Welt mögen diese Grundsätze Gewicht haben, nicht jedoch in der unseren.«
Nachdem er die Pose des Seeräubers an Bord der Victoire gesehen hatte, einen Fuß auf dem Göschstock, der Gesichtsausdruck ein Spiegel völligen Seelenfriedens, fiel es Matthieu nicht schwer, sich einen kultivierten Misson vorzustellen.
»Wie er selbst gesagt hat, flattert ihre Fahne seit zwanzig Jahren im Wind«, erinnerte er den Kapitän. »Das klingt für mich nach mehr als nur einer Utopie.«
»Kapitän Misson hat seine eigene Legende äußerst kunstvoll genährt, das ist alles. Dieser verfluchte Pirat und seine Hirngespinste … Als er nach Madagaskar kam, hielt er sich für erleuchtet!«
La Bouche band sich das Haar im Nacken zu einem kleinen Zopf zusammen.
»Ihr beneidet ihn, nicht wahr?«, fragte Matthieu, nachdem er in der Stimme des Kapitäns einen kaum wahrnehmbaren, jedoch äußerst verräterischen Unterton bemerkt hatte.
»Du bist genauso verrückt wie er. Vielleicht bist du es, der zu ihm überlaufen sollte!«
»Ich meine ja gar nicht wegen seiner seemännischen Fähigkeiten«, stichelte Matthieu, der gerade zum ersten Mal einen verletzlichen La Bouche vor sich sah, weiter. »Sondern eher wegen der Freiheit, die er sich auf seine Fahne geschrieben hat.«
Der Kapitän sah sich um.
»Ich beneide das klare Wasser. Hier gibt es weder Tempel noch Kreuze. Jeder sucht die Spiritualität auf seine Art und Weise.«
Fern von zu Hause und allein in Begleitung dieses stets so betont gleichgültigen Mannes, hegte Matthieu nun die Hoffnung, dass sich im steinernen Herzen des Kapitäns vielleicht doch eine menschliche Sehnsucht rührte.
La Bouche stand auf. Er griff nach seinem Gürtel und stieg die Düne hinunter, den Riemen in der Hand. Die Spitze des Schwertes malte eine Linie in den Sand.
Der Musiker wandte sich noch einmal zur Landseite hin.
»Was findet sich bloß hinter diesem Nebel?«, fragte er sich mit leiser Stimme.
Dann stieg er die Klippe hinauf und lief in den Ruinen hin und her, bis er die Stelle erreichte, an der die Soldaten ihr Lager aufgeschlagen hatten. Zwei von ihnen hielten Wache, die anderen ruhten sich
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