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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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ein wenig aus. Sie hatten sich im Schutze eines Mäuerchens hingelegt, das wohl einmal zu einer Zelle gehört hatte, da auf halber Höhe Metallringe befestigt waren. Man konnte die unterschiedlichen Gebäude der Festung noch gut unterscheiden: das Lagerhaus, die Waffenkammer, ein eleganter wirkendes Gebäude, das wohl Gouverneur Flacourt als Wohnhaus gedient hatte, die Nischen der verrosteten Kanonen, die noch immer aufs Meer gerichtet waren … Sie hätten wissen sollen, dass die wahre Gefahr von der Landseite herkam, dachte Matthieu.
    Die Sonne würde bald untergehen und überzog die Landschaft mit einem purpurfarbenen Schimmer, der die ohnehin schon rote Farbe der Erde nur noch verstärkte, die jenseits der Dünen unter der feinen Sandschicht zu erahnen war. Rote Erde … Es war, als pulsiere Blut unter der Oberfläche dieser Insel und als strahle sie deshalb solche Wärme aus. Matthieu wischte sich über die Stirn. Der Schweiß lockte seltsame Insekten an, die bei Sonnenuntergang geboren wurden und nach nur wenigen Minuten aus Angst vor der Dunkelheit starben. Der junge Geiger setzte sich an die Felskante. Auf dem Wasser schaukelte sanft das Schiff, die Ankerkette hing straff im ruhigen Wasser. Die Matrosen waren zur Aventure zurückgekehrt und hatten sich auf Deck zusammengesetzt, um sich gegenseitig die haarsträubenden Geschichten zu erzählen, die von den wenigen Soldaten des Gouverneurs stammten, die lebend nach Frankreich zurückgekehrt waren. Es hieß, die Anosy rissen die kleinen Kinder benachbarter Dörfer in Stücke, um ihre Geschlechter auszurotten und sich ihrer Zebuherden zu bemächtigen, verspeisten die Herzen ihrer Gegner, um ihre Kraft in sich aufzunehmen, und banden ihre Gefangenen mit ausgestreckten Armen über einem Termitenloch fest, damit die unersättlichen Insekten sich einen Weg durch ihre Bauchhöhle bahnten. Dies ist doch die Insel, die die Melodie der Seele zu ihrem Rückzugsort auserkoren hat!, dachte Matthieu empört, während er sich vorstellte, welche Foltermethoden sich die Mannschaft noch ausmalen würde. Sie hatten jedes Recht, Beklemmung zu verspüren, aber doch nicht aus Angst vor herbeifantasierten Ungeheuern, sondern angesichts solch immenser Reinheit!
    Als die Nacht die Bucht umfing, holte der junge Mann seine Geige aus dem Beutel. Seit dem Duett für den Sonnenkönig in Versailles am Abend vor seinem Aufbruch hatte er nicht mehr darauf gespielt. Noch nie zuvor war sein Bogen so lange unberührt geblieben. Er betrachtete das Instrument einen Moment lang, als sähe er es zum ersten Mal, bestaunte seine Formen und den eleganten Schnitt. Dann ließ er sich damit in einer abgelegenen Ecke nieder. Bevor er die Geige ansetzte, zupfte er an den Saiten, die einen exakten Tanz ausführten. Er hielt inne. Da war nun also seine Musik, wartete nur auf ihn … Er bewegte die steif gewordenen Finger, brachte schließlich die Violine in ihre natürliche Position und schlug ein paar lange Noten an, um das Instrument mit der Hand zu stimmen, die den Bogen hielt.
    Endlich schloss er die Augen und spielte. Kein ganzes Stück, sondern kurze Phrasen verschiedenster Herkunft, die spontan entstanden, sich im Korpus tummelten und endlich hinausdrängten. Jahrelang hatte die Musik ihm Zugang zu Welten verschafft, die ihm eigentlich verwehrt waren, in jener Nacht sah er in ihr jedoch die Möglichkeit, in seine eigene Welt zurückzukehren oder vielleicht sogar ein ganz neues Universum zu erschaffen, das so jungfräulich war wie die Erde, die seine Füße nun berührten. Und er ließ sich von ihr entführen, setzte sich neben Nathalie vor die mehlbestäubte Tür des Zuckerbäckers und fing eine Träne auf, die seiner Freundin über die blasse Wange rann.
    Plötzlich holte ihn etwas aus seiner Verzauberung zurück. Er sah sich um. Die Soldaten waren eingeschlafen, jeder einzelne von ihnen. Wie war das möglich? Hielt denn niemand Wache? In diesem Moment vernahm er ein seltsames Geräusch.
    Und dann sofort wieder Stille.
    Er spitzte die Ohren. Nichts zu hören. Die schlafenden Soldaten …
    Er spielte noch eine Phrase. Ein Legato, das den Grundton hielt, dann zur Dominanten aufstieg und dort verweilte, aber an Intensität immer weiter zunahm …
    Er hielt inne und sah sich nach beiden Seiten um.
    Stil… Da, wieder dieses Geräusch!
    Und dann hörte er es klar und deutlich: einen dumpfen Schlag gefolgt von einer Frequenz, die er nicht einzuordnen wusste, einer Vibration, als ob jemand energisch an der

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