Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
Vom Netzwerk:
Geräusch … Dasselbe langsame Trommeln, der gleiche schwingende Laut, der dieses Mal ohne Pause ein ums andere Mal wiederholt wurde.
    »Da ist es schon wieder.«
    La Bouche und der Offizier hörten offensichtlich nichts.
    »Was denn?«, drängte der Kapitän.
    Matthieu antwortete nicht. Wie hypnotisiert ging er dem Geräusch nach.
    La Bouche zögerte einige Sekunden. Dann gab er schließlich den Soldaten ein Zeichen, damit sie ihre Sachen zusammensuchten und dem Geiger folgten, ohne ihn zu stören. Der Musiker verließ das Areal der alten Festung und nahm den gleichen Weg wie in der Nacht zuvor. Er hielt auf die Hügel am Wasser zu. Mit jedem neuen Laut korrigierte er die Richtung. Nachdem er die Ruinen hinter sich gelassen hatte, wurde das Gelände immer zerklüfteter, er ging jedoch mit der Sicherheit dessen weiter, der davon überzeugt ist, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Er lief an der Grabanlage mit den Steinplatten und Pfählen vorbei, ohne ihr Beachtung zu schenken, durchquerte einen schlammigen Palmenhain und betrat ein unendliches Geröllfeld voll riesiger Felsen, glatt und schwarz wie der Rücken eines Wals. Matthieu wurde schneller und half sich beim Überqueren der dunklen Brocken mit Händen und Füßen.
    »Das Geräusch kommt von dort«, erklärte er den anderen, als sie ihn einholten.
    Er deutete auf eine Grube in der roten Erde, gesäumt von einer Gruppe Felsen, die sich darum scharten wie Schildkrötenpanzer. In der Mitte der Kuhle wuchs ein riesiger Baobab. Der Mond projizierte Bilder aus dem Jenseits auf seinen Stamm. Dieser war so dick, dass ein halbes Dutzend Männer ihn mit den Armen nicht hätten umfassen können, und er erhob sich wie der Wachturm einer Festung mit einem Strauß verkümmerter Ästchen in der Baumkrone als Standarte. Neben dem Stamm knisterte ein Lagerfeuer, und daran wärmte sich …
    »Mein Gott!«, rief La Bouche aus.
    »Ein kleiner Junge …«, staunte Matthieu. »Er ist es, der den Laut erzeugt …«
    Ein menschliches Wesen, hier auf der Mondinsel.
    Es handelte sich um einen Anosy-Jungen, der nicht älter als fünf sein konnte. Er spielte auf einer Erdsitar, dem einfachsten Instrument, das Matthieu je gesehen hatte: ein kurzer Ast am Boden mit zwei Sisalsaiten, die vibrierten, wenn man sie mit zwei Stöckchen anschlug. Matthieu musste an das Pochen denken, das er vom Schiff aus gespürt hatte. Das Kind schien die Anwesenheit der Franzosen nicht zu bemerkten. Es war wie ein Halbgott, der einer konkreten Pflicht nachkam: das Herz der Insel am Leben zu erhalten und jeden einzelnen Herzschlag auszulösen.
    »Das gefällt mir gar nicht«, murmelte La Bouche und nahm die Umgebung in Augenschein. Die Männer hätten sich, ohne mit der Wimper zu zucken, einem ganzen Bataillon der österreichischen Armee entgegengestellt, der Anblick des Jungen mit der Sitar löste in ihnen jedoch eine Beklemmung aus, die ihnen die Kehle zuschnürte. Immer wieder sahen sie sich nach allen Seiten um und erschraken bereits bei der Berührung eines Windhauchs am Arm. Ein paar von ihnen verspürten ein Schwindelgefühl und bereuten es, von den Beeren gegessen zu haben, die an Büschen im Fort wuchsen. Die Soldaten begannen zu diskutieren. La Bouche hieß sie schweigen und überlegte, wie er am besten mit dem umgehen sollte, was er da vor sich hatte.
    Matthieu verspürte keine Angst. Er schloss die Lider und gab sich den Schwingungen der Sitar hin. Vor seinem inneren Auge stand nur ein einziges Bild: wie er selbst als fünfjähriger Knirps mit dem Stock fürs Seifekochen Violine gespielt hatte an jenem Tag, an dem Onkel Charpentier ihm dann enthüllt hatte, dass jede Note und auch jede Pause göttliche Liebe in ihrer reinsten Form sind.
    »Lasst uns hinuntergehen«, entschied schließlich der Kapitän, der begierig war, für das alles eine Erklärung zu finden.
    Sie stiegen durch eine Felsspalte in die Senke hinunter. Kaum waren sie ein paar Schritte auf den Baobab zugegangen, unter dem der Junge saß, als ein Dutzend Männer – Männer? – vom Stamme der Anosy hinter Felsbrocken im hinteren Teil der Grube hervorkam und über das Gestein hinweg auf sie zuschlich.
    »Das ist eine Falle!«, rief La Bouche und zog das Schwert aus seiner Scheide. »Kampfaufstellung!«
    Die Soldaten gehorchten und nahmen Verteidigungshaltung an, sie begriffen aber sofort, dass diese Eingeborenen nichts mit ihrer Vorstellung von den blutrünstigen Kriegern des Usurpators zu tun hatten. Sie waren dürr wie

Weitere Kostenlose Bücher