Das geheime Lied: Roman (German Edition)
tiefsten Saite einer Harfe zupfen würde. Matthieu drehte sich rasch um. Es war nichts zu sehen, niemand zu erkennen. Einen Moment lang hielt er die Luft an. Er schloss die Augen. Da, wieder das Geräusch und auch noch aus verschiedenen Richtungen! Wo steckte bloß La Bouche? War er mit den Seeleuten zum Schiff zurückgekehrt?
Er spielte die Notenfolge noch dreimal und erhielt jedes Mal eine Antwort. Der junge Mann stand auf und schritt mit der Geige in der Hand zum Rand der Ruinen. Er hatte keine Fackel dabei, die brauchte er aber auch nicht. Der Vollmond der vorherigen Nacht zeigte sich noch immer prall und rund. Er hatte den Himmel hell erleuchtet und warf silberne Lichtreflexe auf die riesigen Formationen aus poliertem Stein, auf die unmögliche Pflanzenwelt, die überraschende Mischung aus aggressiven Kakteen und zarten Hibiskusblüten. Matthieu hätte sich beinahe dazu hinreißen lassen, nun doch an die Geschichten zu glauben, die den Matrosen solche Angst einjagten, er verbannte sie aber aus seinen Gedanken und ging weiter.
Die Landschaft schien sich mit jedem Schritt zu verändern. Manchmal hatte er das Gefühl, sich inmitten einer Theaterkulisse aus Pappmaché zu befinden. Er stieg gerade einen Hang voller Schalentiere hinauf, die von innen heraus zu leuchten schienen, als er auf einmal etwas entdeckte.
Den Ursprung des Geräusches?
Er versuchte, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Es handelte sich um mehrere Gestalten oder vielmehr ihre Schatten, die sich auf einem Hügel in den Himmel reckten. Matthieu hätte beinahe kehrtgemacht und wäre dorthin zurückgerannt, wo er hergekommen war, irgendetwas hielt ihn jedoch zurück. Die Figuren wirkten so leblos. Er kam einige Schritte näher. Es handelte sich weder um Menschen noch um ihre Schatten – es waren Platten aus Ton, die man senkrecht in die Erde gerammt hatte, umgeben von unzähligen mit Zebugeweihen geschmückten Stäben.
Während der Geiger dieses Monument betrachtete, verstummte die Schwingung. Wohin war sie verschwunden? Er versuchte, die Töne zu entwirren, die ihn umgaben, die Laute einen nach dem anderen durchzugehen, um eine auditive Karte der Landschaft zu erstellen und einen Hinweis auf die Vibration zu entdecken, aber zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich dazu nicht in der Lage. Der Wind hatte nachgelassen. Die Blätter raschelten nicht. Das Einzige, was er angesichts dieses Kreises aus Steinplatten und Pflöcken noch vernahm, war das Rauschen des Meeres in der Ferne, zart und tödlich wie das Brummeln einer Löwin.
Und dann verspürte er zum ersten Mal diesen Schmerz in den Ohren wie ein glühendes Eisen, das seinen Kopf in perfekter und unerträglicher Symmetrie durchbohrte.
10
D as Schiff legte am Abend des nächsten Tages ab. Vom Rand der Klippe aus beobachtete Matthieu, wie die geschwollenen Segel es vorantrieben. Der breite Streifen, den die Aventure im Wasser hinterließ, zog sich quer durch die Bucht in Richtung Osten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Bis der Frachter wieder herkommen und ihn hier abholen würde, hatte er drei Monate Zeit. Drei Monate und eine schier unlösbare Aufgabe, bei der er nur von dem Kapitän und einem Dutzend Elitesoldaten unterstützt wurde, die gegen die Dämonen des Usurpators wohl wenig ausrichten konnten, wenn ihr vager Plan fehlschlug. La Bouche stand reglos am Strand. Die Wellen verschlangen seine Stiefel bis zu den Knöcheln, während der zitternde Umriss des Schoners auf den Horizont zuhielt. Kurz darauf ließ jemand den Vorhang herunter, und die Nacht legte sich über Land und Wasser.
Der Kapitän kehrte ins Fort zurück. Auf einmal schien er über neue Energie zu verfügen. Er rief seinen Offizier zu sich, und die beiden stiegen auf einen der noch verbliebenen Geschütztürme, um das mondbeschienene Terrain zu analysieren. Es ging darum, den angemessensten Weg ins Innere der Insel auszuwählen und sich auf die Suche nach der Priesterin zu machen. Matthieu stieß zu den beiden Männern.
»Wir sollten jetzt schon aufbrechen«, schlug der Offizier vor.
»Damit bin ich einverstanden«, stimmte La Bouche zu, ohne den Blick von der Landschaft abzuwenden. »Wenn wir nachts reisen, können wir der verfluchten Hitze entgehen und laufen weniger Gefahr, einer Patrouille des Usurpators zu begegnen. Wir müssen sein Dorf erreichen, ohne von den Waffen Gebrauch zu machen.«
»Ich sage den Männern Bescheid.«
»Einen Moment …«, unterbrach ihn Matthieu.
»Was ist?«
Das
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