Das geheime Prinzip der Liebe
steht. Als gäbe es einen Numerus clausus der Seelen auf Erden. Ich musste nicht lange warten, bis dieser schreckliche Taschenspielertrick auch bei mir funktionierte. Maman starb vier Tage, nachdem ich ihr mitgeteilt hatte, dass ich schwanger bin. Die Mutter zu verlieren, wenn man selbst Mutter wird, ist ein schrecklicher Schlag.
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass mein Kind sie niemals kennenlernen wird.
Verdammt noch mal, warum musste sie auch so schnell diese Landstraße entlang rasen?
Als ich den Brief zusammenfaltete, hätte ich beinahe Nicolas angerufen. Vielleicht war es doch keine gute Lösung, vor ihm zu fliehen, und auch nicht, ihm meine Schwangerschaft zu verheimlichen. Ich musste ihm wenigstens die
Möglichkeit lassen, nein zu sagen. Ich wusste, dass er kein Kind wollte, aber er sollte es mir ins Gesicht sagen. Um mich von ihm zu heilen.
Wenn er mich auf Knien anflehen würde, es abtreiben zu lassen, mir wieder und wieder versichern würde, dass wir uns noch nicht lange genug kennen – später vielleicht, aber heute sei es zu früh –, dann würde mein Gefühl für ihn nicht standhalten.
Früher fand ich Abtreibung gut: modern, freie Entscheidung der Frau ... Jetzt sitze ich in einer Falle, die – wie viele Fallen – zuerst nach Freiheit aussah. Fortschritt für die Frau, von wegen! Wenn ich das Kind behalte, fühle ich mich schuldig gegenüber Nicolas, der es nicht will. Mache ich es weg, bin ich gegenüber dem Kind schuldig. Unter dem Vorwand, die Frau von der Sklaverei der Mutterschaft zu befreien, versklavt man sie mit der Abtreibung auf andere Weise: durch das Schuldgefühl. Mehr denn je wird die Mutterschaft unsere Großtat oder unser Verbrechen.
Ich hätte lieber keine Wahl gehabt. Wenn ich mit fünfunddreißig nicht zu den Folgen einer Liebesnacht stehen kann, zu der mich niemand gezwungen hat, Herrgott noch mal, wozu werde ich dann stehen? Wenn man nicht mehr für das Leben verantwortlich ist, das man schenkt, was wird dann aus uns? Wofür werden wir uns dann überhaupt noch verantwortlich fühlen?
Also hatte ich Maman von meiner Schwangerschaft erzählt. Sie musste sich erst mal hinsetzen vor Schreck. Ich hatte nicht daran gedacht, sie vorher auf einen Stuhl zu setzen, ich dachte, so was macht man nur in schlechten Werbespots. Wir hatten bisher nie darüber gesprochen, und sie nahm wohl an, ich wollte keine Kinder. Jetzt war sie sprachlos.
Natürlich hatte ich immer ein Kind gewollt, ich hatte einfach nicht den richtigen Mann gefunden. Jetzt dachte ich, ich hätte ihn, aber ich war schwanger geworden, ehe ich herausfinden konnte, ob er einverstanden ist. Und genau an dem Abend, an dem ich es ihm erzählen wollte, kam er mir zuvor, indem er mir mitteilte, sein Bruder sei gerade Vater geworden und er wolle nicht an seiner Stelle sein, er fühle sich überhaupt nicht dazu bereit, so gar nicht ...
Danach konnte ich es ihm natürlich nicht sagen. Aber ich habe gründlich nachgedacht, und egal was er davon hält, ich behalte das Kind. Es ist mir egal, ich bin fünfunddreißig, die Natur wird nicht auf mich warten.
Maman sagte, sie verstehe mich. Ich versicherte ihr, dass sie eine wunderbare Großmutter sein würde. Sie antwortete: »Bestimmt!« Und fügte noch hinzu, ein Kind sei gut, aber zwei wären besser.
Als ich mich jetzt an die seltsame Feierlichkeit erinnerte, mit der Maman diesen Satz ausgesprochen hatte, nahm ich mir vor, beim nächsten Mal ans Telefon zu gehen, wenn Nicolas versuchen würde, mich zu erreichen. Ich musste mit ihm sprechen.
»Die Niederkunft war entsetzlich. Ich hatte die schlimmste Asthmakrise meines Lebens. Sophie, die sich um mich kümmerte, wiederholte unaufhörlich: ›Arme Annie … arme Annie ...‹. Als sie merkte, dass sie es nicht allein schaffen würde, bat sie Madame M., einen Arzt zu holen.
Ich sah genau, wie sie zögerte, ehe sie ging.
›Sie braucht aber lange ... Das bringt sie doch nicht fertig! ‹ Sophie war außer sich. Ich hatte nie zuvor erlebt, dass sie wütend auf Madame M. war.
Ich weiß nicht, was dann passierte, weil ich vor Schmerzen ohnmächtig wurde. Auf jeden Fall kam Madame M. allein zurück. Sie hatte überhaupt keinen Arzt gesucht …
Kannst du dir das vorstellen? Sie hätte uns lieber krepieren lassen, mich und das Kind, als dass ihr Geheimnis aufgedeckt wurde. Angeblich war sie in der Kirche gewesen, um für uns zu beten. Vielen Dank!
Ich hatte eine Menge Blut verloren. Sophie blieb viele Stunden an meinem
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