Das geheime Prinzip der Liebe
Fontenay-le-Fleury. Viele Dorfbewohner hatten sich um den Hochzeitszug versammelt. Die Zeremonie
berührte mich sehr, weil sie mich an unsere eigene erinnerte. Diese zwei Ja, die einander antworten, haben auf mich immer die gleiche Wirkung: Ein paar Minuten lang scheint die Liebe so einfach, dass selbst der zynischste, unfreundlichste, illusionsloseste Gast daran glaubt. Erst später finden die Geister wieder zu sich, wie Paul.
»Der Altersunterschied ist aber ziemlich groß.«
Sacha war vierundfünfzig, Geneviève fünfundzwanzig. Ich reagierte nicht, aber die Bemerkung gefiel mir ganz und gar nicht. Es war das zweite Mal in dieser Woche, dass mir der Altersunterschied begegnete.
Am Samstag zuvor hatte ich im Kino Normandie Der Tag bricht an gesehen. Marcel Carné ist viel zu feinfühlig, um es auszusprechen, aber genau diese Frage des Altersunterschieds steht meiner Meinung nach im Zentrum seines Films. Arletty und Jacqueline Laurent sind einander so ähnlich, dass nur ihr Alter sie unterscheidet, und sowohl Jean Gabin als auch Jules Berry wählen die Jüngere. Schreibt euch das hinter die Ohren , muss Carné gedacht haben, als er die beiden Schauspielerinnen engagierte.
Ich unterbreitete diese Auslegung meinem Tischnachbarn, der beim Film arbeitete. Ihm war meine Deutung überhaupt nicht in den Sinn gekommen, als er Der Tag bricht an gesehen hatte, aber jetzt, wo ich es ihm sagte, fand auch er es offensichtlich .
Wir waren bei diesem Essen exakt einhundertfünf Gäste. Sacha hatte Wert darauf gelegt, so viele Personen einzuladen, wie er Stücke geschrieben hatte, typisch für ihn. Ich fühlte mich in der Gesellschaft eigentlich wohl. Es herrschte eine fröhliche Stimmung, die Menschen waren geistreich, was mich vor den banalen Fragen über die Kinder bewahrte. Da das Wetter nicht schön war, hatten wir
drinnen gegessen und gingen nur zum Dessert hinaus, für das sich Sacha im Park etwas Besonderes hatte einfallen lassen: Ein Esel zog einen Karren mit einem Kirschbaum, von dem sich jeder bedienen konnte. Die Frauen fanden die Idee entzückend, so poetisch … Die Männer hatten keine Lust, vom Tisch aufzustehen, weshalb die meisten den Nachtisch übersprangen. Ich erschrak ein wenig, als ich mich plötzlich inmitten all der Frauen wiederfand, und blieb ein paar Schritte zurück. Doch während meine Feindinnen von gestern harmlos die Stufen der Freitreppe hinabschritten, wurde mir plötzlich bewusst, dass meine Gegner gewechselt hatten.
In der Nähe des Esels, der den Karren zog, stand eine weiße Hirschkuh, die Sacha seiner Geneviève zur Hochzeit geschenkt hatte.
Annie war die schöne Hirschkuh und ich der sich plagende Esel … Diese Erkenntnis überwältigte mich. Die zehn Jahre, die uns trennten und die ich nie wirklich bemerkt hatte, trafen mich wie eine Ohrfeige.
»Mademoiselle Annie wird noch so manchem den Kopf verdrehen!«
Wie oft hatte Sophie diesen Satz in den letzten Wochen wiederholt? Ich begann allmählich zu begreifen, was sie damit andeuten wollte . Man kann den Dienstmädchen nichts verbergen, sie sehen Dinge, die andere nicht bemerken. Wir stehen im Mittelpunkt ihrer Beobachtung, und selbst wenn man aufpasst, kann man nicht verhindern, dass ihnen ein belastendes Detail ins Auge springt.
Zehn Tage später stieg ich am Samstagmorgen wie all die Wochen zuvor in den Wagen. Am Ortsausgang tat ich jedoch so, als würde mir plötzlich das Datum bewusst werden.
Ich wies Jacques und Sophie an, wie üblich einkaufen zu fahren, während ich lieber heimkehren wollte. In Paris würden die Champs-Elysées am Tag nach dem 14. Juli unbefahrbar sein. Ich bat Jacques, mich an der Weggabelung abzusetzen, ich würde zu Fuß zurückgehen.
»Mademoiselle Annie wird noch so manchem den Kopf verdrehen!«
An diesen Satz klammerte ich mich, um nicht meinen Entschluss zu ändern und davonzulaufen. Aber warum sollte ich mich gehemmt fühlen? Ich zerstörte keinerlei Intimität, die gab es ja nicht. Ich hatte die Regeln für ihre Begegnungen aufgestellt, also war meine Anwesenheit nicht ungehörig. Während ich mir das einzureden versuchte, ging ich durch den Garten bis zum offenen Fenster des »Zimmers ohne Wände«.
Ich hörte, wie sich die Tür hinter ihnen schloss. Sie traten ans Bett. Was sie sprachen, verstand ich nicht, ihr Flüstern wurde durch den Wandbehang gedämpft. Ich glaubte, dass sie sich hinlegten.
Langsam schob ich die schweren Vorhänge ein kleines Stück beiseite.
Sie hatten sich nicht
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