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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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Paul und ich im Salon. Das Radio lief, und der Minister für Volksgesundheit schilderte gerade eine Katastrophe. Sein Thema: der Wettkampf um die Geburtenrate. Die deutschen Zeitungen hätten nachahmenswerte Beispiele veröffentlicht: »Schumann war das fünfte Kind ... Bach hatte sieben Geschwister, Händel neun, Dürer sechzehn... Wagner war das jüngste von acht Kindern, Mozart von zehn ...« Während in Frankreich die Geburtenzahlen beängstigend seien. Die Rate sinke, und man könne sich leicht ausrechnen, wann Frankreichs Bevölkerung um die Hälfte oder um drei Viertel geschrumpft oder sogar gänzlich verschwunden sei …
    Ich konnte das Ende des Beitrags nicht hören. Paul sprang nervös auf und schaltete das Radio aus.
    Nach einer Weile sagte er: »Annie ist immer noch nicht schwanger.«
    Ich biss mir auf die Lippen, um nicht zu explodieren. Sie, die seinen Penis in den Mund nahm.

    In jenem Jahr 1939 fuhren wir zum ersten Mal nicht in die Ferien. Gewöhnlich verbrachten wir den Sommer in unserem Haus in Collioure.

    Paul sagte, die politische Lage sei zu angespannt, aber ich wusste, dass es eine Ausrede war. In Wirklichkeit wollte er sich nicht von Annie entfernen. Ich entgegnete sogleich, ich hätte sowieso nicht vor, L’Escalier zu verlassen, wo doch neuerdings schon die ärmsten Schlucker ihren bezahlten Urlaub an unseren Stränden verbringen könnten. Sicher würden auch Annie und ihre Eltern einige Tage wegfahren.
    Paul war so erleichtert über meine Reaktion, dass er nicht einmal meinen Seitenhieb gegen Annie bemerkte, die ich gerade der Masse der von mir verachteten Proletarier zugeordnet hatte. Meine Gemeinheit zeigte keine Wirkung, denn mein Mann sah in ihr schon lange nicht mehr das einfache Mädchen, das sie war. Er, der mit ihren Fingern spielte und sanft die Beuge an ihrem Handgelenk küsste.
    Entgegen allen Erwartungen schlug er mir Mitte August dann plötzlich doch vor, für ein paar Tage nach Deauville zu fahren. Das sei nicht so weit wie Südfrankreich und man komme schneller zurück, falls sich die Lage verschlechtern sollte. Was ich für eine Aufmerksamkeit mir gegenüber hielt, verwandelte sich in einen wahren Albtraum. Inmitten unglücklicher Menschen kann man das eigene Unglück verbergen, nicht aber inmitten der Glücklichen. Unter all diesen Leuten, die fröhlich kreischend am Strand herumrannten, stach Pauls Unglück besonders ins Auge. Er erregte sich über den Diebstahl eines Gemäldes von Watteau, Der Gleichgültige , aus dem Louvre und las mir Artikel über den Fall vor, Bogousslavsky hier, Bogousslavsky da. Seine Monologe erschreckten mich. Weniger weil es fast die einzigen Worte waren, die mein Mann während dieses Aufenthaltes an mich richtete, sondern weil sie kaum verhohlen die Spur von Annie trugen. Er sprach gar nicht zu mir.
    In der Toilette des Restaurants, wo wir aßen, nahm ich
mein Kopftuch ab und riss mir die weißen Haare einzeln heraus. Beim siebten entschied ich: Falls der Krieg nicht ausbrach, würde ich Annie töten. Beim neunten Haar weinte ich nicht mehr. Ich machte fast genüsslich weiter im Rhythmus von »Tout va très bien, Madame la Marquise«, dessen Melodie vom Restaurant herüberdrang.
    Mein Heil konnte mir nur noch von einer Trennung kommen. Ich versank in eine schändliche Spekulation mit dem Unglück und wünschte aufs innigste den Krieg herbei. Im August 1939 trafen viele Vorzeichen zusammen. Es wurden Vorkehrungen für den Zivilschutz getroffen. Berge von Sandsäcken wuchsen in Paris empor und bedeckten die Statuen. Seltene Tiere wurden aus dem Jardin des Plantes entfernt. Die Zugverbindungen nach Deutschland waren unterbrochen. Das, was alle erschreckte, tröstete mich.
    Krieg oder kein Krieg? Ich klammerte mich an das geringste, auch trügerische Anzeichen. Den Voraussagen von Astrologen, die versicherten, dass es nach den Horoskopen der Herren Hitler und Mussolini »in diesem Sommer keinen Krieg« geben werde, zog ich den Hinweis vor, dass man im Osten Frankreichs und in Deutschland den Durchzug zahlreicher Seidenschwänze beobachtet habe, wie 1870 und 1914. Diese Vögel, deren Flügel in einer Art blutroter Wachskugel endeten, genossen den Ruf, große Katastrophen anzukündigen.
    Man fand auch eine seltene Buchausgabe von Nostradamus, die ebenfalls nichts Gutes für die Zukunft verhieß:
    Schon 1940 werden die deutschen Heere Frankreich von Norden und Osten überfallen. Paris wird in Asche verwandelt. In Poitiers wird die Entscheidung fallen.

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