Das Geheime Vermächtnis
nicht noch unglücklicher. Das Einzige, was sich verändert hatte, war der Mann, mit dem sie schlief.
Storton Manor machte auf Caroline keinen guten Eindruck. Das Haus war stattlich, aber reizlos, die Fenster in der Form zu streng, um einladend zu wirken, der Stein zu grau, um schön zu sein. Die Auffahrt war von langstieligem Löwenzahn und Quecke erobert worden, von der Haustür blätterte die Farbe ab, und auf dem Schornstein fehlten mehrere Aufsätze. Ihr Geld wurde dringend gebraucht, erkannte Caroline. Das Personal reihte sich ordentlich auf, um sie zu empfangen, als wären die Leute entschlossen, mit ihrem Glanz das schäbige Haus in den Schatten zu stellen. Hausdame, Butler, Köchin, Dienstmädchen, Zimmermädchen, Küchen magd, Stallbursche. Caroline stieg aus der Kutsche und schluckte die aufsteigenden Tränen herunter, als sie sich an die schmuddeligen Arbeiter auf der Ranch erinnerte, die sich ebenfalls aufgereiht hatten, um sie im Haus ihres ersten Mannes willkommen zu heißen. Und du hast sie im Stich gelassen, warf sie sich vor. Du hast sie alle einfach verlassen, ohne ein Wort. Sie zwang sich zu einem Lächeln und nickte jedem Einzelnen zu, während Henry die Leute vorstellte, die wiederum einen Knicks oder eine kleine Verbeugung machten und mit bescheiden gesenkter Stimme Lady Calcott murmelten. Sie griff nach ihrem richtigen Namen, Caroline Massey , und drückte ihn sich fest ans Herz.
Als Caroline später über das weitläufige Anwesen spazierte, fühlte sie sich ein wenig besser. Die wie im Schneesturm herumwirbelnden Teilchen ihres Selbst begannen allmählich niederzusinken und sich dabei zu einer neuen Art Ordnung wieder zusammenzufügen. Die Luft in dieser englischen Landschaft hatte etwas Süßes, eine Art grüne Lieblichkeit, selbst am Ende des Winters. Kein hallender Straßenlärm, Pferde, Kutschen oder viele Menschen. Kein leerer Präriewind, Kojotengeheul oder Meilen ungebrochenen Horizonts. Ihr war weder zu heiß noch zu kalt. Sie konnte die Dächer und Rauchfähnchen des Dorfes durch die kahlen Bäume um das Haus herum sehen, und es beruhigte sie zu wissen, dass nur einen kurzen Spaziergang entfernt Leben war. Ein Teppich leuchtender Osterglocken erhellte das andere Ende der Rasenfläche, und Caroline schritt langsam durch die Blumen. Der Saum ihres Kleides drückte sie kurz nieder, aber schon im nächsten Moment richteten sie ihre Köpfe wieder auf. Sie sann über die Leere in ihrem Geist nach, über das hohle Gefühl, das sie nicht abschütteln konnte, doch sie gestattete sich, nur einen Augenblick lang zu denken, dass sie hier sicher war und alles ertragen konnte.
Henry Calcott war ein wollüstiger Mann, und Caroline ließ seine eheliche Aufmerksamkeit während der ersten paar Wochen nach der Hochzeit allabendlich über sich ergehen. Sie war passiv, wandte das Gesicht von ihm ab und staunte darüber, wie anders sich der Liebesakt anfühlte, wenn sie mit einem Mann schlief, für den sie nichts empfand. Da Carolines Geist und Sinne frei von jeglicher Leidenschaft waren, bemerkte sie zum ersten Mal die schmatzenden Geräusche, die durch die Vereinigung ihrer Körper entstanden, den fleischigen, ein wenig fauligen Geruch, die Art, wie ihr Mann nach Luft rang und beinahe zu schielen begann, wenn er sich dem Höhepunkt näherte. Sie versuchte, eine neutrale Miene zu wahren und sich ihre Abscheu nicht anmerken zu lassen.
Handwerker erschienen auf Storton Manor und begannen, die Gärten in Ordnung zu bringen und Reparaturen am Haus durchzuführen, von innen wie von außen.
»Du wirst doch zurechtkommen, wenn ich in die Stadt fahre? Die Männer stören dich nicht?«, fragte Henry Caroline beim Frühstück, drei Wochen nach ihrer Ankunft im Herrenhaus.
»Aber natürlich stören sie mich nicht«, entgegnete sie ruhig.
»Du kannst mich gern in die Stadt begleiten …«
»Nein, nein, fahr du nur. Ich bleibe lieber hier und mache mich noch besser mit … mit dem Haus vertraut, und …«
»Schön, schön. Ich werde höchstens eine Woche bleiben, denke ich. Habe nur ein paar geschäftliche Angelegenheiten zu regeln«, erklärte Henry zufrieden und wandte sich wieder den Morgenzeitungen zu. Caroline drehte sich um und schaute aus dem Fenster in den trüben Tag hinaus. Geschäftliche Angelegenheiten, wiederholte sie im Stillen. Bei einem Ball in London hatte ein Mädchen mit schmalem Gesicht und platinblondem Haar ihr zugeflüstert, dass Henry Calcott gern Poker spielte, obwohl er so gut wie
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