Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
Vom Netzwerk:
verschwundenes Lächeln hinterlassen hatte. Er lehnte sich an den Baum und verschränkte schützend die Arme vor der Brust. Beth zögerte noch eine Weile, als hätte sie Mühe, die nächsten Worte zu wählen. Dann griff sie wieder einmal nach meiner Hand. »Komm mit, Rick. Wir müssen reingehen und dein Bein abwaschen.«
    Zwei Tage später holte Dinny uns wieder ab, und diesmal starrte der Stamm der Buche nur so vor Sprossen und Schlaufen. Beth nickte Dinny anerkennend zu, und ich schoss zum Fuß dieser unsäglichen Treppe und starrte schon zu dem schwebenden Haus hinauf, während ich zu klettern begann.
    »Vorsichtig!« Beth schnappte nach Luft und biss in die Fingerspitzen einer Hand, als ich mit einem Fuß den Halt verlor und wackelte. Sie folgte mir hinauf, mit konzentriert gerunzelter Stirn, wobei sie darauf achtete, nicht nach unten zu schauen. Ein loser Vorhang aus Düngersäcken bildete die Tür. Drinnen hatte Dinny weitere Kunststoffsäcke mit Stroh gefüllt und ordentlich arrangiert. Außerdem gab es eine Obststeige als Tisch, einen Strauß Wiesenkerbel in einer Milchflasche, ein Kartenspiel und ein paar Comics. Das war ganz einfach der beste Platz auf der Welt. Wir malten ein Schild, das an den Fuß der Treppe kam. Das Krähennest. Betreten verboten. Mum lachte, als sie es las. Wir brachten Stun den da oben zu, schwebend in flüsternden grünen Wolken, zwischen denen Fleckchen hellen Himmels glitzerten, wir picknickten weit weg von Meredith und Henry. Ich machte mir Sorgen, dass Henry alles verderben würde, wenn er zu Besuch kam. Ich fürchtete, dass er auf unserem magischen Platz herumtrampeln und sich darüber lustig machen würde, so dass er einem danach nicht mehr so fantastisch vorkam. Aber zum Glück stellte sich heraus, dass Henry Höhenangst hatte.
    In meinem Kopf ist Henry immer noch größer als ich, älter als ich. Elf, als ich sieben war. Dieser Altersunterschied kam mir damals riesig vor. Er war ein großer Junge . Er war laut und rechthaberisch. Er kommandierte mich herum und behauptete, ich müsse tun, was er sagte. Meredith schmierte er Honig ums Maul – sie hatte Jungen immer lieber gehabt als Mädchen. Er begleitete sie bei ihren seltenen Ausflügen in den Wald und half ihr mehr als einmal bei der Umsetzung eines gemeinen Plans. Henry: ein fleischiger Hals mit fliehendem Kinn, dunkelbraunes Haar, blasse Haut, die im Sommer auf dem Nasenrücken einen Sonnenbrand bekam, und hellblaue Augen, die er oft schmal zusammenkniff, ein hässlicher Ausdruck. Ich sehe ihn jetzt vor mir, eines von diesen Kindern, die eher ein Erwachsener im Kleinformat sind – man sieht sie an und weiß sofort, wie sie als Erwachsene aussehen werden. Seine Züge waren schon vorgezeichnet; sie würden wachsen, sich aber nicht entwickeln. Er trug seinen Charakter im Gesicht geschrieben, denke ich, reizlos, offenkundig. Aber das ist unfair. Schließlich hat er keine Chance bekommen, mir das Gegenteil zu beweisen.
    Eddie hat immer noch das Gesicht eines Kindes, und ich finde es wundervoll – es ist ein unauffälliges Jungengesicht. Er hat eine spitze Nase, buschiges Haar und Kniescheiben, die stolz aus mageren Beinen in kurzen Schulhosen hervorstehen. Mein Neffe. Auf dem Bahnsteig umarmt er Beth, ein wenig verlegen, weil ein paar seiner Schulkameraden in dem Zug hinter ihm sitzen, an die Scheiben klopfen und ihm den Mittelfinger zeigen. Ich warte am Auto auf sie, mit vor Kälte runzligen Fingern, und grinse ihnen entgegen, als sie näher kommen.
    »Hallo, Eddie Baby! Edderino! Eddius Maximus!«, rufe ich, schlinge die Arme um ihn und drücke ihn so fest, dass ich seine Füße vom Boden hebe.
    »Tante Rick, alle sagen doch nur noch Ed«, protestiert er ein wenig genervt.
    »Natürlich. Entschuldigung. Und du kannst mich nicht Tante nennen – da komme ich mir hundert Jahre alt vor! Wirf deine Tasche in den Kofferraum, und los geht’s«, sage ich und widerstehe dem Drang, ihn weiter aufzuziehen. Er ist jetzt elf. Genau so alt, wie Henry immer sein wird, und alt genug, um Aufziehen ernst zu nehmen. »Wie war die Zugfahrt?«
    »Ziemlich langweilig. Außer, als Absolom Marcus im Klo eingesperrt hat. Der hat vielleicht geschrien – das war echt lustig«, berichtet Eddie. Er riecht nach Schule, und der Geruch breitet sich langsam im Auto aus, scharf und säuerlich. Ungewaschene Socken, Bleistiftspäne, Matsch, Tinte und alte Sandwiches.
    »Ja, sehr lustig! Vor zwei Wochen musste ich zum Direktor, weil Eddie seine

Weitere Kostenlose Bücher