Das Geheime Vermächtnis
mir fast die Zunge.
»Die sind fabelhaft, Beth«, sage ich anstelle einer Begrüßung. Sie wirft mir ein kleines Lächeln zu, das breiter wird, als sie sich ihrem Sohn zuwendet. Sie geht zu ihm, um ihn auf die Wange zu küssen, und hinterlässt gespenstische Mehlabdrücke auf seinen Ärmeln.
»Gut gemacht, mein Schatz. Alle deine Lehrer sind offenbar sehr zufrieden mit dir«, sagt sie zu ihm. Ich nehme das Zeugnis vom Tisch, puste etwas Mehl vom Papier und sehe mir die Bewertungen an. »Außer vielleicht Miss Wilton …«, schränkt sie ihr Lob ein.
»Was unterrichtet sie?«, frage ich ihn, und er windet sich ein bisschen.
»Französisch«, nuschelt Eddie mit vollem Mund.
»Sie schreibt, du gibst dir viel zu wenig Mühe, und wenn du dich mal anstrengst, beweist du, dass du viel besser sein könntest«, fährt Beth fort und hält Eddie an den Oberarmen fest, sodass er ihr nicht entkommen kann. Er schaut verlegen auf den Boden. »Und dreimal Nachsitzen in diesem Halbjahr? Was ist denn da los?«
»Französisch ist einfach furchtbar langweilig !«, erklärt er. »Und Miss Wilton ist so streng! Sie ist echt unfair! Einmal musste ich nachsitzen, weil Ben einen Zettel nach mir geworfen hat! Das war doch nicht meine Schuld!«
»Na ja, versuch einfach, ein bisschen besser mitzumachen, okay? Französisch ist sehr wichtig – doch, wirklich!«, beharrt Beth, als Eddie die Augen gen Himmel verdreht. »Wenn ich reich bin und mich in Südfrankreich zur Ruhe setze, wie willst du da klarkommen, wenn du die Sprache nicht beherrschst?«
»Mit Händen und Füßen?«, schlägt er vor. Beth presst streng die Lippen zusammen, doch dann muss sie lachen, ein satter, warmer Laut, den ich viel zu selten höre. Sie kann einfach nicht anders, nicht bei Eddie. »Darf ich noch ein Mince Pie haben?«, fragt er, denn er wittert seinen Sieg.
»Nur zu. Und dann gehst du baden – du starrst vor Dreck!« Eddie schnappt sich zwei Törtchen und saust aus der Küche.
»Nimm deine Tasche mit nach oben!«, ruft Beth ihm nach.
»Ich hab keine Hand mehr frei!«, ruft Eddie zurück.
»Wohl eher keine Lust mehr«, sagt Beth mit schiefem Grinsen zu mir.
Später sehen wir uns einen Film an. Beth und Eddie sit zen aneinandergekuschelt auf dem Sofa, eine riesige Schüssel Popcorn zwischen sich gequetscht. Als ich zu ihr hinüberschaue, sehe ich, dass sie von dem Film nicht viel mitbekommt. Sie wendet das Gesicht halb ab, legt das Kinn auf Eddies Kopf und schließt zufrieden die Augen. Ich spüre, wie sich ein paar der Knoten in meinem Inneren vorsichtig lockern und in der Wärme des offenen Kaminfeuers auflösen. So vergeht die Woche schnell – ein Kinobesuch in Devizes, Schulaufgaben am Küchentisch, Mince Pies, Eddie draußen in der Remise oder auf Streifzug durch die verlassenen Ställe, bewaffnet mit seiner Axt. Beth ist heiter und gelassen, wenn auch ein wenig geistesabwesend. Sie hört auf zu backen, als ihr das Mehl ausgeht, und steht oft einfach nur da und lächelt versonnen, während sie Eddie durchs Fenster beobachtet.
»Vielleicht fahre ich nächsten Sommer mit ihm nach Frankreich«, sagt sie zu mir, ohne ihre Wacht am Fenster zu unterbrechen, als ich ihr eine Tasse Tee reiche.
»Das würde ihm bestimmt gefallen«, entgegne ich.
»In die Dordogne vielleicht. Oder ins Lot-Tal. Wir könnten im Fluss schwimmen.« Ich freue mich sehr, dass sie Pläne schmiedet. Pläne für die Zukunft. Ich finde es wunderbar, dass sie so weit vorausdenkt. Ich lege das Kinn auf ihre Schulter und folge ihrem Blick hinaus in den Garten.
»Ich habe dir doch gesagt, dass es ihm hier gefallen würde«, bemerke ich. »Weihnachten wird wunderbar.« Ihr Haar riecht leicht nach Minze, und ich ziehe es über ihre Schulter zurück und streiche es auf ihrem Pulli glatt.
Am Sonntagnachmittag kommt Maxwell, um seinen Sohn abzuholen. Ich rufe nach Beth, als ich ihm die Tür öffne, und weil sie nicht kommt, veranstalte ich für Maxwell eine kurze Führung durchs Erdgeschoss und koche ihm Kaffee. Maxwell hat sich vor fünf Jahren von Beth scheiden lassen, als ihre Depression immer schlimmer wurde und sie so viel Gewicht verlor. Er sagte, er käme damit nicht klar, und so könne man kein Kind großziehen. Also verließ er sie, um praktisch gleich darauf wieder zu heiraten – eine kleine, rund liche, gesund aussehende Frau namens Diane: weiße Zähne, Kaschmirpullis, perfekt manikürte Fingernägel. Unkompliziert. Ich hatte immer den Eindruck, dass Beths Depression Maxwell
Weitere Kostenlose Bücher