Das Geheime Vermächtnis
das Pferd und zog dann sacht ihre Hände herunter.
»Jetzt hör doch!«, sagte er ernst und sah ihr fest in die Augen. »Hör mir zu, Caroline. Das sind gute Menschen. Menschen wie du und ich. Sie wollen nur leben und arbeiten und ihre Kinder großziehen. Ganz gleich, was du im Osten gehört hast, wo man Indianer gern als grausame Schurken darstellt – ich sage dir, dass sie weder dir noch irgendjemand anderem Böses wollen. Es gab in der Vergangenheit viel Unfrieden, den oft genug wir Weißen gebracht haben, aber jetzt wollen wir alle nur noch miteinander auskommen, so gut es geht. Joe hat seine Familie hierhergebracht, um gemeinsam mit uns zu leben und zu arbeiten, und ich glaube, das erforderte einen Mut von ihm, den du und ich kaum begreifen können. Hörst du mir zu, Caroline?« Sie nickte, obwohl sie kaum aufnehmen konnte, was er sagte. Tränen rannen ihr über die Wangen. »Weine nicht, mein Liebling. Nichts, was man dir über Indianer erzählt hat, trifft auf Joe zu. Das kann ich dir garantieren. Komm nur mit, ich mache euch miteinander bekannt.«
»Nein!«, keuchte sie.
»Doch. Sie sind jetzt deine Nachbarn, und Joe ist ein verlässlicher Freund.«
»Ich kann nicht! Bitte!«, schluchzte Caroline. Corin holte sein Taschentuch hervor und wischte ihr die Tränen vom Gesicht. Er hob ihr Kinn an und lächelte zärtlich.
»Du armes Ding. Bitte hab keine Angst. Komm nur mit. Sobald du sie kennenlernst, wirst du sehen, dass du sie nicht zu fürchten brauchst.«
Mit einem Zungenschnalzen rief er das strapazierte Pferd zur Ordnung, wendete es erneut und lenkte den Wagen auf das Tipi und die Erdhütte zu. Um die Behausungen verteilten sich Wäscheleinen und Trockengestelle, Seile, Werkzeuge und Zaumzeug. Ein Feuer brannte vor dem Zelt, und als sie näher kamen, trat eine kleine Frau mit stahlgrauem Haar heraus und stellte einen verrußten Topf auf die Glut. Ihr Rücken war krumm, doch ihre Augen blitzten wachsam zwischen den tiefen Falten hervor, die ihr Gesicht zerfurchten. Sie sagte nichts, richtete sich aber auf, nickte und beobachtete Caroline mit stillem Interesse, während Corin von der Kutsche sprang.
»Guten Morgen, White Cloud, ich komme, um dir meine Frau vorzustellen«, sagte Corin und tippte zur Begrüßung respektvoll seine breite Hutkrempe an. Als er Caroline aus der Kutsche half, fühlten sich ihre Beine wackelig an. Sie schluckte, doch da blieb ein Kloß in ihrer Kehle, der ihr das Atmen schwer machte. Ihre Gedanken wirbelten wie ein Blizzard in ihrem Kopf herum. Ein Mann kam aus der Erdhütte, gefolgt von einem jungen Mädchen, und eine weitere Frau trat aus dem Tipi. Sie war mittleren Alters und hatte ein ernstes Gesicht. Sie sagte etwas Unverständliches zu Corin, und zu Carolines größter Überraschung antwortete er ihr.
»Du sprichst ihre Sprache?«, platzte sie heraus und wich dann erschrocken zurück, als sich aller Augen auf sie richteten. Corin nickte ein wenig schüchtern.
»Ja, das tue ich. Also, Caroline, das ist Joe, und das ist seine Frau Magpie, die allen als Maggie bekannt ist.« Caroline bemühte sich zu lächeln, doch sie konnte ihren Blicken nicht länger als ein paar Sekunden standhalten. Sie sah vor sich einen strengen, dunklen Mann, nicht groß, aber mit breiter Brust, und ein rundliches Mädchen, das lange Haar in hübschen Zöpfen, in die bunte Fäden eingeflochten waren. Joe trug das Haar ebenfalls lang, und beide hatten hohe, katzenartige Wangenknochen und ernst wirkende, gerade Augenbrauen. Die Frau lächelte, neigte den Kopf und versuchte, Carolines Blick aufzufangen. Magpie – Elster –, was für ein merkwürdiger Name.
»Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs. Massey«, sagte sie, und ihr Englisch war fehlerfrei, obwohl sie mit starkem Akzent sprach. Caroline starrte sie mit offenem Mund an.
»Du sprichst Englisch?«, flüsterte sie ungläubig. Magpie kicherte fröhlich.
»Ja, Mrs. Massey. Besser als mein Mann, obwohl ich noch nicht so lange lerne wie er!«, verkündete sie stolz. »Ich bin so froh, dass Sie da sind. Es gibt viel zu viele Männer auf dieser Ranch.«
Caroline widmete der jungen Frau einen längeren Blick. Sie trug einen einfachen Rock und eine Bluse, um ihre Schultern hatte sie eine bunte gewebte Decke gelegt. Ihre Füße steckten in einer Art weicher Pantoffeln, wie Caroline sie noch nie gesehen hatte. Ihr Mann, in einer schweren, mit Perlen besetzten Weste unter dem offenen Hemd, brummte ein paar scharfe Worte in seiner eigenen
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