Das Geheime Vermächtnis
Mäntel, also gehen wir schnell, mit steifen Gliedern. In der klaren Nacht taumeln die Strahlen unserer Taschenlampen wild umher. Der Mond scheint hell, und die vorüberziehenden Wolken erwecken den Eindruck, als segle er über den Himmel. Eine Füchsin schreit, als wir uns den Bäumen nähern.
»Was war das?«, ruft Eddie erschrocken.
»Werwolf«, sage ich nüchtern.
»Ha, ha. Außerdem ist gar kein Vollmond.«
»Also gut, das war ein Fuchs. Es macht gar keinen Spaß mehr mit dir, Edderino.« Ich bin bestens aufgelegt. Ich fühle mich befreit, als wären meine Taue gekappt und ich könnte schwerelos dahintreiben. Helle, unruhige Nächte haben diese Wirkung auf mich. Wind, der im Dunklen weht, hat etwas Magisches. Wie er so nonchalant an einem vorbeistreicht, scheint er sagen zu wollen: Ich könnte dich hochheben. Ich könnte dich davontragen, wenn ich wollte. Ein Versprechen liegt in diesem Abend.
Jetzt können wir Musik hören und laute Stimmen und Gelächter. Und schon leuchtet uns zwischen den Bäumen das große Lagerfeuer entgegen. Beth lässt sich zurückfallen. Sie verschränkt die Arme steif vor der Brust. Wenn Eddie nicht dabei wäre, würde sie wohl hierbleiben, im Schutz der Bäume von Schatten zu Schatten huschen und nur zusehen. Ich hole eine flache Whiskyflasche aus der Manteltasche und habe Mühe, sie mit behandschuhten Händen zu öffnen. Wir drei bleiben im Kreis stehen, und unser Atem fließt gen Himmel.
»Trink einen Schluck. Na los. Der wärmt dich auf«, sage ich zu ihr, und dieses eine Mal widerspricht sie nicht. Sie nimmt sogar einen ordentlichen Schluck.
»Darf ich auch?«, fragt Eddie.
»Nur über meine Leiche«, antwortet Beth, wischt sich das Kinn und hustet. Sie klingt so real, so anwesend, so sehr nach Beth, dass ich grinsen muss und sie bei den Händen nehme.
»Komm. Ich stelle dir Patrick vor. Er ist supernett.« Ich trinke selbst einen Schluck und spüre das Feuer in meiner Kehle, dann gehen wir los.
Einen Moment lang bin ich nervös, als wir in den Feuerschein treten. Es ist genauso wie vorhin: Ich bin unsicher, ob wir willkommen sind. Doch dann entdeckt Patrick uns und stellt uns einem Haufen Leute vor, und ich bemühe mich, ihre Namen zu behalten. Sarah und Kip – langes Haar, das im Licht der Flammen glänzt, gestreifte Wollmützen; Denise – eine kleine, zierliche Frau mit tief zerfurchtem Gesicht und rabenschwarzem Haar; Smurf – ein Hüne von einem Mann mit Händen wie Spaten und einer sanften Stimme; Penny und Louise – Penny ist der maskulinere Teil dieses Pärchens, mit kurz geschorenem Haar und wild funkelnden Augen. Beide tragen helle Kleidung, beide haben helles Haar. Vor dem winterlichen Hintergrund sehen sie aus wie Schmetterlinge. Auf der Ladefläche eines Pick-ups steht eine Stereoanlage, und geparkte Autos ziehen sich den ganzen Feldweg entlang. Da sind auch Kinder, die kreuz und quer durch die Menge laufen. Eddie verschwindet, und wenig später sehe ich ihn mit Harry zusammen. Sie spießen dicke Bündel trockener Blätter auf lange Zweige und werfen sie dann ins Feuer.
»Wer ist das bei Eddie?«, fragt Beth mit leicht besorgtem Unterton.
»Das ist Harry. Keine Sorge, ich kenne ihn. Er ist ein bisschen langsam, könnte man sagen. Dinny hat mir erzählt, dass er gut mit Kindern kann. Auf mich hat er völlig harmlos gewirkt.« Ich spreche laut und direkt in ihr Ohr. Das Feuer hat uns Schweiß wie feinen Tau auf Lippen und Augenbrauen gezaubert.
»Aha«, sagt Beth, nicht ganz überzeugt. Ich entdecke Honey, die ihrem gewaltigen Babybauch über die Lichtung folgt. Ihr Gesicht wirkt heute Abend lebhaft, sie strahlt und ist wunderhübsch. Ich spüre einen leisen Stich der Verzweiflung.
»Das ist Honey, da drüben. Die Blondine«, sage ich zu Beth, wie um mir selbst zu trotzen. Ich beobachte die Gefühle, die sich wild und wechselhaft auf Honeys Gesicht spiegeln, und ich bin mir sicher – ich habe schon Mädchen unterrichtet, die älter waren als sie: Sie ist zu jung, um ein Baby zu bekommen. Ich fühle beinahe so etwas wie Ärger, obwohl ich nicht wüsste, gegen wen oder was er sich richtet.
Dann taucht Dinny neben Beth auf und lächelt auf seine reservierte Art. Er trägt das schwarze Haar offen, es hängt ihm wirr um die Schultern. Er steht halb dem Feuer zugewandt, halb abgewandt, sodass das Licht ihn entzweischneidet und sein Gesicht als scharfes Relief beleuchtet. Es lässt mir den Atem stocken und hält ihn in meiner Brust fest, bis sie
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