Das Geheimnis am goldenen Fluß
stets für ihren körperlichen Liebreiz gerühmt worden zu sein. Die anderen Kinder hatten sich immer einen oder zwei Schritte hinter ihr gehalten und damit zum Ausdruck gebracht, dass sie, Fang-Shih, von besonderer Schönheit sei und bestimmt eines Tages zur opferbereiten Mutter-von-Söhnen auserwählt werden würde. Damit war ihr von Kindesbeinen an mehr Ehrerbietung zuteil geworden als allen anderen Einwohnern Jou P’u T’uans.
Dann, als sie siebzehn war, ein Jahr vor der Wahlzeremonie, war der bemerkenswerte Barbar Huxley Summerwood in Jou P’u T’uan erschienen. Der Fremdländer beherrschte ihre Sprache perfekt und schien alle Geheimnisse ihrer Kultur zu kennen. Er hatte sich sogar in die Debatte über die Zwei Lehren eingemischt und sich öffentlich gegen den Lung-Hu-Kult ausgesprochen.
Huxley hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt; das war, als ihr Gesicht noch in ein klassisches Gemälde gehört hätte. Und trotz seiner Fremdartigkeit – oder gerade deswegen – hatte sie sich ihrerseits in ihn verliebt. Ihre Liebesspiele mit den Drachenfrauen hatten ihr nie die Lust bereitet, die Huxley in ihr zu entfachen vermochte – ihr ta heng, der Große Verführer.
Dann war sie zur neuen Kaiserin gewählt worden.
Fang-Shih stand im Nieselregen und zuckte unwillkürlich zusammen, als sie an die Scherenzahnfische dachte, die in rasendem Wüten ihr Gesicht verstümmelt hatten. Innerhalb weniger Herzschläge war ihr Leben als unübertroffene Schönheit zerstört gewesen. Doch ihr schreckliches Opfer hatte sie befähigt, Söhne zu gebären, und abermals war ihr allerhöchste Ehrerbietung entgegengebracht worden, dieses Mal für die Geschenke ihres Schoßes.
Nach ihrem Opfergang hatte Huxley unverhohlen seine Abscheu zum Ausdruck gebracht, und seine einstige Liebe für sie war ihm förmlich im Hals stecken geblieben. Trotzdem war sie ihrer Pflicht nachgekommen, und sie war schwanger geworden. Sie hatte den Ling-Chih-Pilz benutzt und offenbart bekommen, dass ihr vorherbestimmt war, den heiligen Hermaphroditen zur Welt zu bringen; für ihren Ehemann ein weiterer Grund, sich von ihr zu entfremden.
Sie hatte geglaubt, der Lung-Hu würde ihr eigenes Kind sein, doch es sollte nicht so kommen.
Als Erstes hatte sie – bedauerlicherweise – bloß eine Tochter geboren. Von denen gab es genug. Jede Tigerfrau in der Stadt konnte Töchter gebären.
In den darauf folgenden vier Jahren hatte sie drei Söhne zur Welt gebracht. Doch das war nur das Aufflackern des Lichtes gewesen, das der Finsternis vorausging, so wie eine Lampe flackert, wenn die letzten Öltropfen verbrennen. An ein und demselben grauenhaften Tag waren ihr Mann und ihre beiden ältesten Söhne gestorben.
Nun war es zu spät, um von vorne anzufangen. Sie fühlte sich ausgelaugt, zu alt, um weitere Kinder zu gebären. Selbst der Ziegenmann, Domino, hatte es nicht geschafft, sie zu schwängern. Ihre Tage als Kaiserin waren gezählt.
Als Mädchen hatte sie ihre Schönheit als Macht empfunden, doch als Kaiserin hatte sie die Schönheit ihrer Macht nie zu entdecken vermocht. Es bereitete keine Freude, eine Gesellschaft aus Frauen zu regieren, die sie verzweifelt um ihre Fähigkeit beneideten, Söhne gebären zu können, in ihrer Gegenwart jedoch vor Angst zitterten und insgeheim ihren Ahnen dankten, nicht in das Gesicht hinter der Maske schauen zu müssen.
Mit dem Ende ihrer Schönheit kam das Ende jedweder Aussicht, von anderen geliebt zu werden. Sogar im jüngsten Kindesalter hatten sich ihre Söhne vor ihrem entstellten Gesicht gefürchtet, und sie hatte immer die Maske aufbehalten müssen. Wie schön es doch gewesen war, sie als Babys im Schoß zu wiegen und mit der Brust zu stillen – dies waren die einzigen Momente gewesen, in denen ihr schweres Karma erträglich schien.
Bei den Geistern all derer, die bisher gelebt haben, ich vermisse meine Söhne so sehr!
In Huxleys Gegenwart hatte sie nie die Maske abzunehmen gewagt. Er hatte immer eine Hand voll Liebessamen schlucken müssen, um vor der Vereinigung seine Lust zu entfachen. Und trotzdem war er ihrem Auge ausgewichen, wann immer ihr Blick durch den Augenschlitz den seinen traf. Das dünne Porzellan stand wie eine unüberwindliche Mauer zwischen ihren Seelen. Gefangen hinter einem falschen Gesicht, wurde ihr Herz von Einsamkeit erstickt. Dennoch war sie über die Jahre oft dankbar gewesen für ihre Maske, denn sie verbarg ihre Tränen.
Fang-Shih seufzte, als ihr nun eine einzelne
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