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Das Geheimnis am goldenen Fluß

Titel: Das Geheimnis am goldenen Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Canter Mark
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dagegen entschieden. Die Zeit ist reif für eine neue Kaiserin.«
    »Ihr wollt eine neue Wahl ausrufen?«
    »Ja«, sagte die Kaiserin. »K’un-Chien ist so weit.«
    Yu Lin runzelte die Stirn. »Was? Sie soll die neue Kaiserin werden?«
    »Zeigt mir eine schönere Frau in unserer Stadt.«
    Yu Lin zögerte. »Aber …«
    »Sie ist meine Tochter. Sie muss mich beerben, denn ihr ist vorherbestimmt, den Lung-Hu zur Welt zu bringen.«
    Ein durchdringendes kak-kak-kak-kak-kak ließ sie zur Felswand hochschauen. Die beiden Adler hatten eine Brut grauer Tauben entdeckt und stürzten auf die auseinander stiebenden Vögel nieder. Die Adler stießen in den Schwarm hinein, und jeder packte mit den Klauen eine graue Taube.
    Der schwarzweiße Adler drehte sofort ab und flog mit seiner Beute der behandschuhten Faust der Kaiserin entgegen, doch der Albino-Adler ließ sein erstes Opfer fallen und tötete eine zweite Taube, ließ auch sie fallen und tötete wieder und wieder. Sechs Tauben fielen ihm zum Opfer, bevor der Schwarm sich in ein Eukalyptus-Dickicht retten konnte. Graue Federn rieselten wie Herbstlaub vom Himmel.
    Die Kaiserin hielt eine behandschuhte Faust in Schulterhöhe, den Arm auf einen speziellen Holzpfosten gestützt. Ihr Adler kam herbeigeflogen, ließ seine Beute in den Kies fallen, bremste seinen Flug mit ausgebreiteten Flügeln und landete auf dem Handschuh. Eine Dienerin rannte zu der Taube und schnitt den Kadaver eilig in mehrere Fleischstreifen. Die Kaiserin fütterte ihren Adler auf dem dicken Lederhandschuh; er umklammerte seinen Hochsitz mit eisernem Griff.
    Der Albino-Adler landete auf Yu Lins Handschuh. Er hatte keines seiner Opfer zurückgebracht und starrte gierig auf das Fleisch, das die Kaiserin an ihren Adler verfütterte. Der Albino war ein Weibchen und deswegen ein Drittel größer als das schwarzweiße Männchen der Kaiserin.
    »Weiße Klinge tötet nur zum Vergnügen, wie immer«, sagte die Kaiserin. »Das ist kein guter Zug; Ihr solltet ihr das abgewöhnen.«
    »Warum? Schließlich war ich diejenige, die es ihr beibrachte.«
    »Wenn alle Adler wahllos töteten, fänden sie bald keine Beute mehr zum Fressen.«
    »Aber die anderen Adler sind nicht wie meiner. Schaut Euren an – er begnügt sich mit einer einzigen mickrigen Taube.«
    »So soll es sein – das ist die natürliche Ordnung. Diejenigen, die sich mit der natürlichen Ordnung der Dinge nicht zufrieden geben, sind gefährlich, General Yu.«
    »Weiße Klinge braucht zum Frühstück mehr als ein paar Taubenhappen«, sagte Yu Lin und kraulte die bauschigen Brustfedern des schneeweißen Raubvogels. Aus einem Lederbeutel fütterte Yu Lin ihn mit getrockneten Fleischbrocken eines zweizehigen Baum-Faultiers, der Hauptnahrung eines Sturmadlers.
    Yu Lin lächelte ihr Haustier an. »Sie weiß, dass sie die Kaiserin des Himmels ist; sie möchte, dass alle anderen Adler das anerkennen.«
    »Und diesen Ehrgeiz – habt Ihr ihr den auch beigebracht?«
    Yu Lin starrte die Kaiserin an. »Sie ist dafür geboren. Schaut Euch ihre Größe an, ihren wilden Blick.«
    »Ja, ich sehe gut mit einem Auge«, sagte die Kaiserin. »Ihr habt einmal angemerkt, dass es nur zwei Kategorien von Kreaturen gäbe –«
    Yu Lin nickte. »Jäger und Gejagte. Genau so ist es.«
    »Dann sagt mir, was geschieht, wenn zwei Jäger aufeinander treffen?«
    »Dann stellt sich heraus, dass es zwei Kategorien von Jägern gibt«, sagte Yu Lin. »Die Stärkeren und die Schwächeren.«
    Mit einem Ruck ließ Yu Lin ihre behandschuhte Faust hochschnellen und schickte Weiße Klinge in die Luft. Der Albino-Adler kreischte und verscheuchte den Adler der Kaiserin von deren Handschuh. Sie stiegen vor der Südwand in die Höhe, der größere Albino dem kleineren Adler nachjagend, bis sie über dem Rand des Tals verschwanden.

38
    Am Morgen der Wahlzeremonie hingen kühle Dunstschwaden über den Feldern hinter den Steinmauern der Stadt. Trees Gewand klebte feucht an ihrer Haut, und ihre hellblonden Locken kringelten sich im Dunst wie vergoldete Springfedern.
    Fast alle Einwohner Jou P’u T’uans hatten sich vor der Stadt auf einem großen steinigen Areal eingefunden. Vor der Menge war auf einem kleinen Hügel ein Pavillon errichtet worden. Direkt davor hatten Tree, Mason und K’un-Chien Meng Po getroffen, der zum ersten Mal seit sechs Jahren ins Freie hinausdurfte.
    »May-Son, ich hatte völlig vergessen, wie schön die Welt ist«, sagte Meng Po. »Die Beschaffenheit des Bodens, die

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