Das Geheimnis am goldenen Fluß
weinen an.
»Wir sind fast da«, sagte K’un-Chien mit beruhigender Stimme. »Vielleicht noch eine Stunde.«
»Na toll«, sagte Domino. »Noch eine verdammte Stunde in dieser Totengruft. Mein linkes Auge ist zugeschwollen, und hier drin ist es so schwarz, dass ich nicht sagen kann, ob mein rechtes Auge noch etwas sieht oder ob ich völlig blind bin. Und wenn ich noch ein Spinnennetz verschlucke, flippe ich aus.«
»Hey, ich bin in kein einziges Spinnennetz gerannt«, sagte Mason. »Danke, dass du sie für mich aus dem Weg geräumt hast.«
»Zum Teufel mit dir, Compadre.«
»Sag mal, Domino, was brachte dich eigentlich dazu, doch aus Jou P’u T’uan verschwinden zu wollen?«, fragte Mason. »Vor einem Monat warst du noch zufrieden wie eine Küchenschabe in einem Marmeladenglas.«
»Meine Zukunft dort sah nicht besonders rosig aus.«
»Hattest du mit dem Pilz eine schlimme Vision?«
»Yeah, kann man wohl sagen – ich sah meinen eigenen Tod. Ich würde an einem elektrischen Schlag sterben, wenn ich in der Stadt bliebe. Ich sah es ganz deutlich, spürte den Schock, alles.«
»An einem elektrischen Schlag?«, fragte Tree. »Aber es gibt doch gar keinen Strom dort.«
»Ich sage dir, was ich sah und spürte. Es war ein elektrischer Schlag – vielleicht von einem Blitz oder so. Ich war völlig durchnässt, als stünde ich im Regen. Meine Muskeln versteiften, meine Lungen wurden hart wie Stahl. Mein Herzschlag stoppte.« Dominos Stimme brach. »Ich musste abhauen.«
Meng Po war der einzige in der Stadt verbliebene Mann, dachte Mason traurig. Es gab keine Zweierbruderschaft mehr. Nur einen männlichen Einsiedler unter Frauen.
»Lasst uns weitergehen«, sagte K’un-Chien und stand auf.
Mason half Hsiao Pi auf die Beine. »Wenn du möchtest, kannst du meine Hand halten«, flüsterte er ihr zu.
»Ja, das wäre schön«, sagte Hsiao Pi und legte ihre zierliche Hand in seine schwielige Handfläche. »Danke.«
Der Tunnel war relativ gerade, fiel jedoch an einigen Stellen steil ab. K’un-Chien stieg dann als Erste in die Tiefe und half den anderen beim Herunterklettern. Nach einer halben Stunde wurde der Neigungswinkel des Tunnels weniger tückisch. Mason löste Hsiao Pis Seil und trug sie im Huckepack weiter.
Nach ihrer langen Wanderung durch die Dunkelheit erklärte K’un-Chien, dass sie die letzte Biegung vor dem Ausgang erreicht hätten.
»Endlich«, sagte Tree.
Die Schwärze wich allmählich einem schwachen Licht, dann erstrahlte plötzlich das Glühen des Halbmondes. Mason trat aus dem Tunnel. Er fand sich etwa hundert Meter über den Baumwipfeln auf einer felsigen Anhöhe wieder. Der am Himmel hängende Halbmond ließ das Dach des Regenwalds silbrig grün schimmern. Eine sanfte Brise rauschte durch die Nacht.
»Fantastisch«, sagte Mason. Es tat so verdammt gut, endlich aus dem Tunnel zu sein. Er merkte, dass es hier unten am Fuße des Tepuis mindestens zehn Grad wärmer war als oben im Wolkenwald des Tals. Auf dem Tepuiplateau hatte es nach feuchtem Felsgeröll und Pilzen und Regen gerochen, im Tal nach Wasserfällen und Feigenbaumhainen, in den breiten Prachtstraßen der Stadt nach Frauenhaaren und Parfüm. Hier unten roch die zum Schneiden dicke Dschungelluft nach warmer, feuchter Fäulnis und Federn und Fell.
Die Lieder der Vögel, Frösche und Insekten schallten durch den Dschungel. Mason hörte das Knurren einer großen Raubkatze auf der Jagd.
»Was war das?«, fragte Tree.
»Wahrscheinlich ein Jaguar«, sagte Mason, »oder vielleicht ein Makai.«
»Gefährlich?«, fragte sie.
»Sehr, wenn man alleine unterwegs ist. Da wir so viele sind, würde ich sagen, nein.«
Domino ließ den Blick über die undurchdringliche grüne Masse schweifen, die sich bis zum Horizont erstreckte. »K’un-Chien, wo lang geht’s zum nächsten Fluss?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, sagte K’un-Chien.
»Du weißt es nicht?«
»Dies ist das erste Mal, dass ich vom Berg heruntergekommen bin«, sagte sie.
»Caramba. Ich dachte, du sagtest, du würdest den Weg kennen.«
»Nur Drachenfrauen benutzen den Tunnel – um Dörfer zu überfallen und Jungen zu rauben. Mein Vater warnte mich, dass ich eines Tages vielleicht einen Fluchtweg würde kennen müssen, und er zeigte mir eine Tunnelkarte, die er gezeichnet hatte.«
Domino runzelte die Stirn. »Verdammte Scheiße«, sagte er. Er wandte sich zu Tree um. »Hast du eine Idee, wo wir sind?«
»Mich brauchst du nicht zu fragen«, sagte Tree. »Selbst mit
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