Das Geheimnis am goldenen Fluß
Hause entfernten Krieg, und …« Er schluckte und stemmte sich mit aller Macht gegen den Schutzdamm, um ihn nicht brechen zu lassen. »Könnte ich doch nur zurückgehen und meine Taten ändern – zehn Minuten – fünf Minuten. Nur fünf Minuten aus einem ganzen Leben. Dies würde den entscheidenden Unterschied machen.«
»Ich glaube, ich kann dir helfen«, sagte K’un-Chien und nahm seine Hand. »Es ist offensichtlich, dass du schreckliche Schuldgefühle hast. Natürlich kannst du die Vergangenheit nicht ändern. Aber du kannst sie noch einmal besuchen. Und indem du sie besuchst, kannst du sie neu betrachten. Sie dir noch einmal anschauen. Manchmal reicht schon eine neue Perspektive, um die gesamte Dynamik eines Karmas zu ändern.«
Er zuckte mit den Schultern. »Was meinst du mit ›die Vergangenheit besuchen‹?«
»Ling-Chih«, sagte sie. »Du kannst den heiligen Pilz nehmen. Bei einer Person, die sich mehr der Vergangenheit als der Zukunft zuwendet, führen die Reisen immer in die Vergangenheit.«
»Aber was würde das bringen? Die Reisen, wie du es nennst, sind doch bloß durch eine Droge hervorgerufene Visionen.«
»Nein. Es sind mehr als Visionen. Du musst die Reise selbst unternehmen, damit du die Wahrheit meiner Worte erkennst. Es ist viel mehr als bloß ein Traum oder eine Vision.«
»Schau, ich möchte dich nicht beleidigen, aber wenn es so heilsam ist, seine Vergangenheit zu besuchen, warum hast du dann nicht den Ling-Chih eingenommen und dich von deinem Seelenschmerz befreit?«
»Weil mein Karma in die Zukunft gerichtet ist. Mir ist ein bestimmtes Schicksal vorherbestimmt. Ich aß den Pilz ein einziges Mal, und dabei sah ich, was mir widerfahren wird.«
»Und was war das?«
Sie senkte den Kopf. »Das Geheimnis, das ich weder dir noch Tree verraten darf.«
Er stieß den Atem aus und ließ sich auf den Futon zurückfallen, die Hände hinterm Kopf, die Oberarme auf dem blauen Satinlaken. »Ich möchte nicht in meine Vergangenheit zurückreisen, wenn ich sie nicht ändern kann«, sagte er. »Ich möchte mir nicht von neuem anschauen müssen, was ich getan habe.«
»Aber du siehst dein ›Verbrechen‹ doch bereits jeden Tag. Das Tao verlangt, dass, was immer du verdrängst, dir immer wieder vor Augen geführt wird, wie eine Hand vor dem Gesicht. Du wiederholst fortwährend, was du getan hast; in Gedanken hört es niemals auf. Das ist es, was dich so leiden lässt. Aber wenn du deine Sichtweise ändern könntest, deine Taten in neuem Licht sähest –«
Plötzlich sah Mason Gibs schlammbespritztes Gesicht vor sich; Regen prasselte in seine offenen blauen Augen. In Gibs blicklosem Starren lag weder ein Vorwurf noch ein Freispruch – und kein Lebewohl.
»Ich habe meinen besten Freund getötet. Dafür lässt sich keine andere Sichtweise finden. Ich habe ihn getötet. Er ist meinetwegen gestorben.« Masons Kiefermuskeln zuckten, und er schloss die Augen.
K’un-Chien legte sich neben Mason, nahm ihn in die Arme und küsste ihn auf die Wange. Ihre warmen Brüste unter ihrer Robe drückten gegen seine Rippen. Ihre Sanftheit machte es ihm noch schwerer, den bröselnden Schutzdamm wieder aufzuhäufen, hinter dem sich sein Leiden verbarg. Noch nie war die See seines Schmerzes so dicht davor gewesen, den Damm zu durchbrechen und ihn zu ertränken.
29
Kiki rannte an die Gitterstäbe und schnatterte aufgeregt, glücklich, Mason zu sehen. In Meng Pos Augen spiegelte sich dieselbe Freude wider.
»Willkommen, willkommen, Älterer Bruder«, sagte Meng Po. »Wir freuen uns, dich zu sehen. Dein Besuch ist wie Sonnenschein, der dichten Nebel durchdringt.«
»Das Kompliment kann ich dir voll und ganz zurückgeben. Tatsächlich bin ich heute gekommen, weil ich traurig bin und wusste, dass du mich aufheitern würdest.«
»Sollen wir Haikus austauschen oder malen?«
»Nicht heute, Kleiner Bruder. Mir ist nicht danach, Gedichte zu ersinnen oder etwas Schönes zu erschaffen, wenn ich in schlechter Stimmung bin.«
»Sollen wir dann lieber Kalligraphien üben? Du wirst immer besser. Du hast Hsieh Hos Sechs Grundsätze fast gemeistert. Als Nächstes werde ich dir den Goldranken-Stil des Song-Kaisers Hui Zong beibringen.«
»Ha. Du machst dich über mich lustig. In diesem Augenblick bellt Hsieh Ho durch die Große Ruhmeshalle der Ahnen: ›Oh, nein! Nicht schon wieder dieser stümperhafte Barbar! Selbst ein Höhlenfisch – ohne Augen! ohne Hände! – würde meine Schreibtechnik besser beherrschen als
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