Das Geheimnis am goldenen Fluß
»Hier, gib ihm einen von diesen. Die mag er besonders.«
Mason nahm von dem jungen ein Stück feines Gebäck. »Ein Glückskeks?«
»Du kennst sie?«
»Ich habe sie schon oft gegessen. Aber … Ich dachte immer, Glückskekse seien keine wirklich chinesische Speise.«
»Sind sie auch nicht. Mir wurde gesagt, sie seien eines der Dinge, die mein Vater herbrachte. Aber das war offenbar falsch, denn du hast sie auch schon gegessen.«
Kiki nahm den Glückskeks von Mason und knackte die knusprige Hülle mit scharfen kleinen Zähnen auf. Mit seiner purpurnen Zunge fischte er den Papierstreifen heraus und reichte ihn Meng Po. Der Junge las die Kalligraphie.
»Hier drauf steht: ›Dein Leben wird voller Wunder sein.‹« Meng Po grinste. »Mein Vater brachte aus dem Land, aus dem er stammte, viele seltsame Einfälle hierher. Er sagte, er hätte den Großteil seines Lebens nach uns gesucht.«
Mason fuhr zusammen. »Mein Gott«, entfuhr es ihm auf Englisch. Dann, auf Mandarin: »Kennst du den Namen seines Heimatlandes?«
»Oh, ja. Kiki, woher stammte Vater?«
»Aah-meeh-riih-kaah«, sagte der Weisheitsaffe.
»Amerika«, wiederholte Meng Po und gab Kiki einen weiteren Keks.
Mason setzte sich auf das Sofa; ihm war schwindlig. Das war es also. Der alte Herr hatte es doch bis ›El Dorado‹ geschafft.
Huxley Summerwood – Trees Vater – war auch K’un-Chiens und Meng Pos Vater. Tree war ihre Halbschwester. Deswegen erinnerten ihn K’un-Chiens blaue Augen so sehr an Gib. Er hatte geglaubt, es läge an ihrem gütigen Wesen, an ihrem Seelenfeuer, doch dies war nur ein Teil davon – zwischen ihnen bestand eine tatsächliche physische Ähnlichkeit. Gib und K’un-Chien hatten denselben Vater. Und Meng Po war ein weiteres Wunderkind – wie sein Halbbruder Gib. Wie konnten Tree und ich das übersehen? Die asiatischen Merkmale von K’un-Chiens Gesicht und Augen und die exotische Szenerie der Stadt hatten das Offensichtliche verschleiert.
Was bedeutet das für Tree? Sie ist im Begriff eine Liebesaffäre mit ihrer Halbschwester zu beginnen. Nachdenklich ließ er den Blick durch den im Ming-Stil gehaltenen Palastraum schweifen. Macht es denn einen Unterschied – hier, an einem Ort wie diesem? Ist die Moral der westlichen Zivilisation auch in Jou P’u T’uan gültig? Wäre es besser, es ihr nicht zu sagen?
»May-Son, ich möchte dir meine Sammlung merkwürdiger Gegenstände zeigen, und du erklärst mir, was sie sind.«
»Was?«, sagte Mason, noch immer benommen.
»Meine Sachen aus der Außenwelt. Wirst du mir verraten, was sie sind?«
Mason nickte. »Natürlich. Zeig sie mir.«
Meng Po ging zu der großen Holztruhe zurück. Er holte ein zerbeultes Fernglas heraus und hob fragend die Augenbrauen.
»Damit sieht man weit entfernte Dinge«, sagte Mason.
»Ah, so. Etwas Ähnliches dachte ich mir.«
»Hast du denn nicht durchzuschauen versucht?«
»Doch, aber alles ist verschwommen.«
Mason stand auf. »Wirf es rüber.«
Meng Po warf ihm das Fernglas zu, und Mason fing es mit den Händen zwischen den Gitterstäben auf. Er schaute durch, doch die Linsen waren aus den Fassungen gebrochen, und der Mechanismus zum Scharfstellen klemmte.
»Man nennt dies ein Fernglas«, sagte Mason. »Aber das hier ist kaputt.« Er rieb über ein verrostetes Seriennummernschild; das Fernglas war ein antikes holländisches Militärmodell, Fabrikationsdatum 1810. Musste einem europäischen Abenteurer gehört haben, der im letzten Jahrhundert seine Gene denen der Töchter dieses Tals beigemischt hatte.
»Kennst du die Geschichte dieses Fernglases, seines Besitzers?«, fragte Mason.
»Mir wurde erzählt, es hätte jemandem gehört, der hier vor vielen Jahren lebte, lange vor meinem Vater.« Meng Pos gedämpfte Stimme kam aus der tiefen Truhe. »Ich weiß, was das ist«, sagte Meng Po und richtete sich auf, eine lange Metalltaschenlampe in der Hand. »Es ist eine magische Fackel, die kaltes Licht verströmt. Aber nachdem sie einen Tag und eine Nacht leuchtete, starb ihre Flamme. Kannst du den Zauber wiederbeleben?«
»Die Batterien – die Energiezellen – wurden aufgebraucht. Ich kann den … uh, Zauber nicht wiederbeleben.« Mason lächelte, darüber sinnierend, dass moderne Technologie oft nicht von Zauberei zu unterscheiden war, selbst nicht von ihm. Seinen Heimcomputer betrachtete er als nichts Geringeres als einen Kasten voller kleiner Wunder.
»Was tut das?« Meng Po hielt einen silbernen Pfeifenanzünder hoch und
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