Das Geheimnis der Äbtissin
hier?«
»Aber ja! Ohne sie wäre es ziemlich trostlos für mich. Ich meine, ich habe zwar noch meine Brüder, aber …« Judith brach hilflos ab, als sie einen höhnischen Ausdruck in Beatrix’ Augen bemerkte. Oder hatte sie sich getäuscht? Sie schlug den Weg in Richtung Vorburg ein.
»Nun, ich werde sicher nicht lange bleiben. Mein Gemahl wird mich holen, sobald der Reichstag in Regensburg vorüber ist. Im Oktober findet meine Krönung statt. Und schließlich braucht er dringend einen Thronfolger.« Sie kicherte.
Verstohlen betrachtete Judith den mageren Mädchenkörper und verglich ihn mit dem eigenen. Unter dem einfachen Damast ihres roten Kleides wuchsen seit einiger Zeit recht schmerzhaft Brüste heran, die bei der Prinzessin nicht größer waren, sosehr sie ihren Rücken auch durchdrückte. Und mit denen von Gerlind konnten sie noch lange nicht mithalten.
»Wie alt seid Ihr?«
»Dreizehn. Meinst du, ich bin zu jung?« Kokett schwenkte Beatrix ihre Hüften an den Männern der Torwache vorbei. Der Garten schien sie nicht mehr zu interessieren. »Das sagt der Kaiser auch. In der Hochzeitsnacht haben wir nur formal beieinandergelegen. Er hat mich nicht einmal angefasst.« Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Aber Margot sagt, mit vierzehn Jahren kann eine Frau schon gebären.«
In diesem Moment läutete die kleine Glocke zur Vesper, und Beatrix lief ohne ein weiteres Wort auf einen jungen Geistlichen zu, der gemeinsam mit Pater Martinus über den Hof kam. Verdutzt sah Judith ihr nach.
»Na, machst du dich lieb Kind bei der künftigen Königin?«, zischte Isabella, als sie später in der Kapelle neben ihr stand.
»Was sollte ich tun? Sigena hat mir aufgetragen, ihr alles zu zeigen.«
»Wir müssen sie ignorieren, hörst du? Wir tun einfach so, als wäre sie Luft.« Isabella schnaubte, während Pater Martinus die Epistel verlas. »Wer ist der Pfaffe da neben ihr?«
»Ich glaube, ihr Beichtvater. Der Kaiser erwähnte meinem Vater gegenüber etwas von einem Bischof Konrad.«
»Da siehst du es! Nicht mal unser Pater ist ihr genug.«
Hinter den beiden Mädchen räusperte sich Gerlind laut und vernehmlich.
Im selben Moment drehte der Bischof sich um und sah herüber. Sein Gesicht war markant, hohe Wangenknochen über einem kräftigen Kinn, dazwischen eine gerade Nase. Glattes braunes Haar fiel ihm auf die Schultern. Ihre Blicke trafen sich, und Judith fühlte Kälte in sich aufsteigen. Ein kleines Lächeln lag um seinen Mund, doch seine eisgrauen Augen erreichte es nicht.
Während der Abendmahlzeit herrschte verbissenes Schweigen zwischen Isabella und Beatrix, die laut Tischordnung nebeneinandersitzen mussten. Graf Ludwig kaute nachdenklich auf einem Stück Brot und beobachtete die Mädchen skeptisch. Schließlich beugte er sich zu Judith herüber. »Was ist da eigentlich los?«
Leise berichtete sie ihm von dem Vorfall in der Kemenate. Er nickte zwischendurch immer wieder, riss dicke Brocken vom Brot ab und tunkte sie in die Soße.
»Deshalb hat die Kinderfrau um ein Gespräch gebeten«, schlussfolgerte er.
»Sie scheint der treibende Keil zu sein. Ich glaube, Beatrix möchte gar nicht wie eine Prinzessin behandelt werden.«
»Die Kemenate reicht doch für alle aus, oder?«
»Wenn sie ihre Truhen woanders unterbringen. Sie haben zwei riesige Kästen nach oben schleppen lassen, Vater. Ich weiß nicht, wo die noch Platz gefunden haben. Katharina ist jedenfalls in der Gesindestube untergebracht.«
»Geht es ihr besser?«
»Der Aufguss hilft gegen die Schmerzen. Aber wenn sie ihn nicht trinkt, sind sie wieder da.«
Sigena unterbrach die beiden. »Darf ich mich zu euch setzen?« Ohne die Antwort ihres Bruders abzuwarten, schob sie sich neben Judith auf die Bank. Sie hatte eine Schüssel Kirschen dabei, die sie vor ihnen abstellte. »Probiert mal, die sind von dem alten Baum hinten am Wald. Weißt du noch, Ludwig? Dort haben wir früher reiten geübt. Er trägt die besten Kirschen weit und breit.«
»Ja! Du hast vom Sattel aus genascht, und dein Pferd ist durchgegangen. Ich musste dich aus den Ästen pflücken.« Er lachte herzlich, und Sigena stimmte ein.
Dann wurde sie ernst und blickte Judith an. »Silas sagte mir, du würdest gern Heilerin werden?«
Judiths Augen begannen zu strahlen, und sie nickte eifrig.
Sigena wandte sich an ihren Bruder. »Ich glaube, sie ist dafür geeignet. Zwar hat sie nicht die Gabe der Hellsichtigkeit wie ich, aber die benötigt sie nicht zum Heilen. Ich rate dir,
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