Das Geheimnis der Äbtissin
wir die Sintflut und das Gezeter hier oben.« Vorsichtig Abstand haltend, beugte sich Isabella wieder aus dem Fenster. »Oh, da kommt die Nachhut!«
»Wer kommt?« Judith hockte vor ihrer Truhe und suchte nach trockenen Schuhen.
»Der Schwachsinnige und Beatrix’ Zofe. Ein interessantes Gespann, beide nass wie die Bisamratten.«
»Du bist gehässig. Die zwei können doch nichts dafür. Was ist das für ein Getrappel auf dem Hof?«
»Der Schwachsinnige bringt den Falben weg. Wenn er sich nicht kümmern würde, müsste das Tier sich selbst in den Stall begeben und absatteln.«
»Ja. Swen mag ein bisschen blöd sein, aber mit Pferden kann er umgehen. Weißt du noch, wie er meine Stute kuriert hat, als sie die vielen unreifen Äpfel gefressen hatte?«
»Ja!«, sagte Isabella lachend. »Er hat ihr ein großes Stück Seife hinten reingeschoben. Ich dachte, sie würde nur noch schaumige Haufen machen.«
»Und die Köchin hat tagelang nach ihrer teuren Seife gesucht.«
Das Gelächter der beiden Frauen klang hinaus auf den Hof, doch da war niemand mehr, der es hören konnte. Die Regentropfen prasselten auf die hellen Pflastersteine und entzogen dem Gewitter allmählich die Kraft.
Auch am nächsten Morgen hatte der Regen nicht nachgelassen. Obwohl Judith die Beine in die Hand nahm, war sie nass bis auf die Haut, als sie die Kapellentür aufstieß. Sie war spät dran. Beatrix stand bereits in der ersten Reihe, neben sich den Graf und Vogt Eckardt. Isabella war nirgends zu sehen. Die Bauern, die aus dem Wendendorf zur Sonntagsmesse gekommen waren, machten bereitwillig Platz. Die nasse Schafwolle ihrer Mäntel roch durchdringend und streng. Ihr Vater warf ihr über die Schulter einen missbilligenden Blick zu, als sie durch die Gesindereihen nach vorn drängte. Schuldbewusst sah sie zu Boden. Ihre Suckenie war unterhalb der Knie mit Schlamm bespritzt. In letzter Minute biss sie sich auf die Zunge, auf der ein leiser Fluch lag. Ging denn heute alles schief? Bischof Konrad hielt die Messe ab, Pater Martinus half ihm lediglich beim Austeilen des heiligen Abendmahls. Während der Predigt grübelte sie darüber nach, wie sie Beatrix unauffällig nach der Heilerin Hildegard befragen konnte. Nachdem die Königin dreimal laut geniest hatte und jedes Mal ein beflissenes mehrstimmiges »Wohlsein!« durch die Kirche raunte, umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen. Diese Erkältung musste sie sich zunutze machen.
Nach dem Frühstück fand sie Beatrix in der Kemenate über ihren Stickrahmen gebeugt. Sie hatte ein Feuer im Kamin anfachen lassen und war in eine Decke aus Fuchsfell gehüllt, die sonst nur im Winter aus der Truhe geholt wurde.
Judith hatte sich aus der Futterkammer einen Korb voller dünner Weidenruten mitgebracht, mit dem sie sich zu ihr ans Feuer setzte. Mit einem kleinen Messer begann sie die Rinde von den Ruten zu schaben. Es dauerte nicht lange, bis sie neugierige Blicke spürte.
»Was tust du da?«, fragte Beatrix und zog die Nase hoch.
»Ich schäle Weidenruten.«
»Warum lässt du das nicht eine Magd erledigen? Eine Stickarbeit würde dir besser zu Gesicht stehen.«
Judith schnitzte bedächtig weiter und schüttelte den Kopf. »Dies ist eine sehr wichtige Arbeit. Keine Magd kann sie verrichten.«
»Was kann an dieser Schnippelei so schwierig sein?«
»Wie Ihr sicher wisst, bin ich die Heilerin auf Lare.« Die Worte kamen ihr ungeheuer hochstaplerisch vor, aber sie gehörten zum Plan. Außerdem klang der Satz wirklich gut. »Weidenrinde ist eine sehr wirksame Arznei, die bei vielen Krankheiten hilft. Sie kann nur von jemandem bearbeitet werden, der dafür ausgebildet wurde.« Hoffentlich merkte Beatrix nicht, wie sie übertrieb, denn die Rinde von den Ruten schälen konnte jedes Kind.
Eine Weile herrschte Schweigen im Raum, das nur vom Prasseln des Regens auf dem Fenstersims gestört wurde. Judith fürchtete bereits, Beatrix habe das Interesse verloren, als diese ihre Stickarbeit sinken ließ.
»Wer hat dich ausgebildet?«
»Einer der besten Heiler des Reiches, der Leibarzt des Kaisers.«
»Dieser … Maure?«
»Silas, ja. Ihr müsst ihn kennen, er ist schließlich der Arzt Eures Gemahls.«
»Ja.« Die Antwort kam zögerlich.
Streifen für Streifen Rinde fiel in das Bastkörbchen in Judiths Schoß. Bald würden die Ruten aufgebraucht sein, und sie würde aufstehen müssen, um neue zu holen. Die intime Atmosphäre wäre dann vielleicht verschwunden. Schon die Anwesenheit einer von Beatrix’
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