Das Geheimnis der Äbtissin
mitgebracht habe. Ich habe niemandem von ihrem Geheimnis erzählt, selbst Silas nicht. Ich will ihn nicht gefährden. Der Bischof beobachtet mich, und seine Blicke verheißen nichts Gutes. Beatrix dagegen ist völlig unbefangen, sie scheint nicht zu ahnen, was ich weiß …«
Aufgeregte Stimmen drangen von draußen in das Zelt. Judith lauschte. Vorsichtshalber streute sie Sand über die feuchte Tinte und rollte das Pergament sorgfältig zusammen. Sie achtete genau darauf, dass niemand ihre Niederschriften las. Obwohl sie sich vorsichtig ausdrückte, konnte ein schlauer Kopf vielleicht doch Schlussfolgerungen ziehen, wenn er ihre Bemerkungen über Beatrix und Konrad fand. Sie schob die Rolle in eine Lederröhre und verstaute sie unter ihrem Bett.
»Ein Ausfall!«, hörte sie jemanden rufen. »Zu den Waffen!«
Da erklangen auch schon die Fanfarensignale. Ihr kleines Zelt befand sich im Lager der Fürsten und Herren, direkt neben dem ihres Vaters. Das hatte den Vorteil, dass sie hier sicher war und die Dienste seiner Diener in Anspruch nehmen konnte, da sie selbst keine mitgebracht hatte. Ein Nachteil war, dass sie bis zu den Zelten mit den Verwundeten einen langen Weg durch das Lager zurückzulegen hatte. Mit der Zeit fand sie sich im Gewirr der Lagergassen zwischen all den runden Pavillonzelten zwar besser zurecht, aber noch immer kam es vor, dass sie sich verirrte und unnötige Umwege machte. Einmal war sie dabei an den Außenring des Feldlagers geraten, wo schwerbewaffnete spanische Reiter das Heer gegen Angriffe aus dem Hinterland schützten. In ihrer einfachen Kleidung hielten die Männer sie für eine Magd und wurden zudringlich. Lediglich ihre schnelle Stute hatte sie vor Schlimmerem bewahrt.
Sie schloss das Tintenfass und lief hinüber zum Grafen. Der ließ sich gerade den Brustharnisch anlegen.
»Was ist passiert?«
»Ach, erneut so ein planloser Ausfallsversuch.« Der Graf winkte ab. »Bevor ich in dieser Rüstung bin, sind sie wahrscheinlich schon wieder hinter ihre Mauern zurückgekrochen.«
»Wo nehmen sie nur diese Ausdauer her?«, fragte Judith kopfschüttelnd.
»Was machst du denn, du Trottel!«, brüllte ihr Vater den Knappen an, der den Helm hatte fallen lassen. Etwas leiser sagte er: »Pass auf dich auf, Tochter!«
»Ihr auch, Vater! Ich möchte Euch nicht auf einem meiner Tische finden.«
Der Graf ließ sich das Schwert reichen und lachte. »Besser dort als neben den Gruben, oder?«
Judith nickte. In einem Zelt neben den Abortgruben legten sie die Leichen ab, bevor sie begraben oder – bei besser gestellten Toten – in Essig eingelegt und mit dem nächsten Transport in die Heimat gebracht wurden.
Sie sah noch zu, wie der Knappe ihrem Vater aufs Pferd half, dann holte sie ihre Tasche und ließ sich die Stute bringen. Im Lager herrschte normale Betriebsamkeit. Ein Ausfall der Einwohner von Crema gehörte zum Alltag. Unterwegs traf sie Silas, der das gleiche Ziel hatte. Ein durchdringender säuerlicher Geruch wehte von ihm herüber.
»Warst du im Seuchenzelt?« Er roch nach Essig, weil er sich damit die Hände abrieb, wenn er Kranke behandelt hatte.
Er nickte und trieb Nawar dichter an ihre Stute heran. »Es gefällt mir gar nicht, wie schnell die Anzahl der Siechen steigt. Sie haben alle starken Durchfall. Wir müssen verhindern …«
Lautes Geheul aus vielen Männerkehlen unterbrach ihn. Sie spornten ihre Pferde an und ritten im schnellen Galopp zu einem kleinen Hügel, von dem aus sie die Stadt sehen konnten. Vor dem Westtor hatte sich zwischen Reitern des Kaisers und denen aus Crema ein Handgemenge entwickelt. Ein haarsträubendes Gemisch aus Geräuschen lag in der Luft. Verletzte Pferde wieherten in den Wolfsgruben, in die sie gestürzt waren, Männer brüllten wie Tiere, während sie mit Schwertern aufeinander einschlugen. Von den Mauern Cremas kam ein schauerliches Kreischen. Frauen standen dort oben, die ihre Männer anfeuerten und mit Kübeln voll heißen Pechs darauf warteten, dass sich ein feindlicher Ritter in die Nähe des Tors wagte.
Jetzt rückten von der Seite her ordentlich formierte Truppen des Kaisers heran, um die Kriegsknechte in vorderster Reihe zu unterstützen. Da öffnete sich das Stadttor, und auf ein Hornsignal hin zogen sich die Belagerten blitzschnell zurück. Ein paar Gefangene wurden mitgeschleift. Das Geschrei der Frauen auf der Mauer steigerte sich zum Triumphgeheul. Einzelne Pfeile flogen nach oben, woraufhin sie sich hinter den Zinnen
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