Das Geheimnis der Äbtissin
Wenn es nicht etwas zu früh zur Welt kommt.« Er blickte sie ernst an. »Ihr müsst sehr vorsichtig sein. Habt Ihr noch jemandem davon erzählt?«
»Nein.« Sie seufzte. »Aber Konrad weiß, dass ich sie beobachtet habe. Ich ließ meinen Umhang unter den Birken liegen, und er fand ihn.«
Silas sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Allah sei mit Euch! Der Bischof ist skrupellos.«
»Einmal, noch oben in den Bergen, hat er mir gedroht. Nicht direkt, aber unmissverständlich. Auf keinen Fall werde ich mit ihm in den Norden zurückkehren.«
»Solltet Ihr das?«
»Der Kaiser wollte Beatrix von hier wegbringen lassen, bevor das Kind zur Welt kommt.«
»Das fällt ihm reichlich spät ein.«
»Das sagt er selbst. Ich habe ihm abgeraten, Beatrix ist zu schwach.«
Die Einwohner von Crema hatten inzwischen die Katapulte auf den Mauern für den Abschuss vorbereitet. Judith zählte fünf Stück, allein zwei davon zielten in Richtung des Belagerungsturms. Auch die kaiserlichen Schleudern wurden mit Steinen bestückt. Sie hörten die kurzen Befehle der Kommandeure, die Sprechchöre der Bedienmannschaften und das Knarzen des gespannten Holzes.
In diesem Moment brach im hinteren Teil des Heerlagers, dort, wo die Gefangenen untergebracht waren, ein Tumult aus. Menschen schrien, und ihr Entsetzen war bis auf den Hügel hinauf zu hören. Die Städter auf der Mauer hielten in ihrem Tun inne und starrten hinüber.
Silas kniff die Augen zusammen. »Sie bringen die Gefangenen heraus.«
»Vielleicht will Friedrich einen Handel vorschlagen?« Sie sah Berittene eine Gruppe Männer und Jünglinge mit Peitschen in Richtung Turm treiben.
Er schüttelte den Kopf. »Das haben sie bereits mehrfach versucht. Die Bewohner Cremas opfern ihre Stadt nicht für zwei Dutzend Geiseln. Sicher wollen sie die armen Kreaturen als Schutzschild vor seinem Heer laufen lassen.«
»Gütiger Jesus, wer denkt sich denn so etwas aus?« Sie griff nach dem silbernen Kreuz an ihrem Hals.
»Oh, die Herren der Kriegsführung sind jederzeit sehr erfinderisch gewesen«, murmelte er.
Schaudernd wendete sie ihr Pferd. »Lass uns zum Verwundetenzelt reiten. Wir werden bald viel zu tun haben.«
Nawar begann zu tänzeln und reckte seinen schlanken Hals der Stute hinterher. »Wartet. Irgendetwas stimmt da nicht.« Silas starrte noch immer auf das Feld vor der Mauer. »Sie bringen die Männer auf den Turm.«
Sie folgte seinem Blick. Tatsächlich verschwanden die Gefangenen Mann für Mann in dem Holzgestell. Kaiserliche Soldaten drängten ihnen nach.
»Wir sollten wahrhaftig reiten«, sagte Silas plötzlich. In seiner Stimme lag ein schwaches Zittern, das Judith misstrauisch aufhorchen ließ.
»Was ist?«, fragte sie.
Und während sie begriff, schwoll ein Geräusch an, das wie eiserne Nadeln in ihre Ohren fuhr. Die auf der Mauer versammelten Frauen, die gespannt den Marsch der Gefangenen verfolgt hatten, begannen zu schreien, wie sie es bisher nur von Schlachtvieh gehört hatte. Ein vielstimmiger Aufschrei, ein gellendes Wehklagen, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Die Geiseln im Turm schienen einzufallen, es waren plötzlich dunklere Töne darunter, die sich mit den hellen Klagetönen vermischten und gemeinsam zum Himmel stiegen, wo sie von den dichten Wolken zurückgeworfen wurden. Das Rauschen des stärker werdenden Regens konnte das Geräusch nicht mildern. Judith war versucht, sich die Finger in die Ohren zu stopfen, doch ihre Hände krallten sich in die Mähne der Stute und wollten nicht loslassen. Regenwasser lief ungehindert über ihr Gesicht, sie spürte nichts davon.
Ein lauter Knall ließ sie zusammenzucken. Aus der Reihe der kaiserlichen Steinschleudern schwenkte ein Hebelarm heraus, das Netz mit dem Steinbrocken beschrieb einen weiten Bogen in der Luft und stockte abrupt am Ende der Kreisbahn. Mit einem Geräusch wie flatternder Stoff riss ein dunkler Schatten von dem Balken und flog auf die Mauer zu. Das Kreischen der Frauen verstummte. Im selben Moment schlug der Stein krachend in die Krone ein und wirbelte eine Wolke aus Staub und Schutt auf. Dahinter setzte das Inferno erneut ein, und es schien noch lauter zu werden.
Die kaiserlichen Soldaten hatten begonnen die Gefangenen an der dem Feinde zugewandten Seite des Turms festzubinden. Dicht an dicht wurden die sich heftig wehrenden Männer an die dicken Holzbalken gefesselt. Das also hatte der Pfalzgraf gemeint, als er davon sprach, dass Faschinen aus Reisig unnötig seien. Judith
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