Das Geheimnis der Äbtissin
will nicht zurück in den Norden. Ich bin froh, wenn ich bei Friedrich sein kann.«
»Ich habe nur gesagt, was mir richtig erschien.« Sie hoffte, dass ihre Verwunderung nicht zu hören war. Entweder log Beatrix geschickt, oder sie hatte tatsächlich kein Interesse daran, mit Konrad allein zu sein. War der Bischof nur Mittel zum Zweck gewesen?
»Sagt, Hoheit, was geht hier vor?«, fragte sie endlich.
»Du weißt es noch nicht? Es findet ein großer Angriff mit dem Belagerungsturm statt. Heute wird Crema fallen. Ein ideales Weihnachtsgeschenk für unsere Soldaten.«
»Oh, dann muss ich ins Verwundetenzelt. Gut, dass Ihr wohlauf seid.« Eilig griff Judith nach ihrer Tasche.
Über das Gesicht der Königin huschte Enttäuschung. »Wie gern würde ich dich begleiten. Für mich beginnt wieder ein langweiliger Tag mit Warten, Warten, Warten.«
Der Kaiser war inzwischen voll gerüstet, lediglich den Helm trug er unterm Arm. Schwerfällig stapfte er herüber zu ihnen. Offenbar hatte er ihre letzten Worte gehört. »Meine Liebe, du achtest gut auf den kleinen Thronfolger, das ist eine sehr wichtige Aufgabe. Und jetzt wünsch mir Glück.« Er beugte sich hinab und küsste seine Frau zärtlich.
Judith wandte sich ab und verließ fluchtartig den Pavillon, obwohl Beatrix sie nicht offiziell entlassen hatte. Nach einem kurzen Frühstück im Zelt ihres Vaters, der selbst zur Messe gegangen war, ließ sie ihre Stute satteln. Auf halbem Weg zum Ärztezelt hörte sie ein Pferd hinter sich schnauben.
Im flüssigen Trab schloss Silas zu ihr auf. »Ihr seid früh unterwegs.«
Sie nickte ihm zu. »Es wird heute genug zu tun geben. Sie wollen den Turm einsetzen.«
»Ja, ich weiß. Lasst uns auf den Hügel reiten. So viel Zeit haben wir.« Er schnalzte mit der Zunge, und sie galoppierten durch den kalten Sprühregen.
Der aufkommende Wind blähte ihre Mäntel und wehte ihr beinahe den Schleier vom Kopf. Sie griff in letzter Sekunde nach ihm und zog ihn vor sich hinab in den Sattel. Die feinen Regentröpfchen setzten sich wie kleine Perlen auf ihr helles Haar. Außer Atem und mit wirren Locken kam sie auf dem Aussichtspunkt an. Die frische Luft hatte ihre Wangen gerötet, und ihre Augen leuchteten. Silas sah ihr entgegen, und sie erkannte eine warme Bewunderung in seinem Blick, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Als sie ihre Stute neben Nawar zügelte, öffnete er die Lippen, als wollte er etwas sagen.
Sie schaute ihn fragend an, doch sein Gesicht bekam plötzlich einen schmerzlichen Ausdruck. Er riss den Blick förmlich von ihr und schaute hinüber nach Crema. Sie starrte auf das regenfeuchte Fell ihrer Stute. Das Gefühl zwischen ihnen war so wirklich, fast greifbar, und dennoch wussten sie beide keine Worte dafür.
Nawar tänzelte nervös und schüttelte seine Mähne. Silas klopfte ihm den Hals. »Die langen Ausritte fehlen ihm«, murmelte er mit belegter Stimme.
Sie nickte stumm. Niemand konnte sich ohne Eskorte außerhalb des Lagers bewegen. Wer die Reihen der spanischen Söldner in den Außenbereichen verließ, musste um Leib und Leben fürchten. Während die Bewohner einzelner Städte wie Lodi oder Cremona weiter zum Kaiser hielten und damit Haus und Hof vor Zerstörung schützten, litten die Einwohner der kleinen Dörfer rund um Crema unter dem Belagerungsheer. Sie hassten die Deutschen aus tiefstem Herzen.
Die ersten Truppen ritten auf die Stadtmauer zu. Auf der Krone bliesen die Wachen Warnsignale, gleichzeitig begannen in der Stadt die Glocken zu läuten, die üblichen Vorzeichen einer Schlacht. Auf der Mauer tauchten die Köpfe der Stadtoberen auf. Sie schienen zu überlegen, ob es nur einer der vielen Scheinangriffe sein würde oder ob die Belagerer es heute ernst meinten. Sie deuteten nach Westen, wo aus dem unübersichtlichen Gewirr des Feldlagers jetzt der Turm herausgeschoben wurde. Selbst von hier sah das monströse Holzgerüst furchteinflößend aus. Ein wuchtiger Koloss, etliche Ellen höher als die Stadtmauer und mit mehreren Stockwerken Holzgebälk, dazwischen immer wieder Leitern und Plattformen. An der Vorderseite hingen einige schäbige Felle an den Balken wie an den Trockengestellen einer billigen Gerberei. Sie schützten das Holz vor Brandpfeilen und brennenden Kugeln aus den Katapulten. Breit gebundene dicke Reisigmatratzen, sogenannte Faschinen, federten die großen Steine ab, die von der Mauer geschleudert wurden. Unter der Bretterdecke der untersten Etage schaukelte ein Rammbock an Ketten. In
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