Das Geheimnis der Äbtissin
den beiden Stockwerken darüber standen kleinere Steinschleudern. Das oberste Geschoss verfügte über eine Fallbrücke, die auf die Stadtmauer gelegt wurde, wenn der Turm mit seiner Besatzung endlich dort angekommen war. Doch so weit war es noch lange nicht.
Die Bevölkerung der kaisertreuen Stadt Lodi hatte in den vergangenen Tagen zweihundert Holzfässer voll Erde auf Fuhrwerken herangeschafft. Die Soldaten hatten sie unter einem schützenden Dach westlich vom nördlichen Stadttor in den Wassergraben gekippt. Das Erdreich war anschließend dicht mit dünnen Holzstämmen und Reisigbündeln belegt worden, damit die Räder des schweren Turms nicht einsinken konnten.
Die Belagerten dagegen hatten in dieser Zeit zwei ihrer Katapulte links und rechts von der Rampe auf der Mauerkrone installiert. Große Steinbrocken waren mit Winden nach oben gehievt und auf dem Wehrgang gestapelt worden. Jetzt wiesen erste Rauchsäulen hinter der Mauer darauf hin, dass die Pechsieder begannen ihre Lava zu kochen, um sie später über die Köpfe der Angreifer zu gießen.
Judith stellte sich das Gewimmel hinter den Stadtmauern vor, wo inzwischen jeder genau wusste, was er zu tun hatte. Sie sah Frauen, die ihre Väter und Liebsten durch lautes Geschrei anfeuerten und ihnen Nachschub an Pfeilen, Steinen und Pech brachten. Und Kinder, die Reisigbündel und stärkeres Brennholz zu den Pechkesseln schleppten, die Trinkwasser an die Kämpfenden verteilten oder einfach nur auf ihre kleineren Geschwister achtgaben. Oder die Wundärzte, die Verbandsmaterial zurechtlegten und frische Wundsalbe anrührten, genauso wie sie hier auf der anderen Seite der Mauern.
Der hölzerne Koloss bewegte sich Elle für Elle vorwärts. Hunderte von Soldaten zogen vorn an Stricken oder hebelten hinten mit Hilfe von langen Stangen, um das Kunstwerk der Zimmerleute auf seinen klobigen Holzrädern voranzubringen. Der vom Regen aufgeweichte Boden in der Ebene erschwerte das Vorhaben. Einmal drohte das Gerüst umzukippen, als eines der Räder in ein Schlammloch geriet. Ein Ritter preschte rund um den Turm und brüllte Kommandos. Sie erkannte das Wappen des Löwen. Noch waren die Zugmannschaften außer Reichweite der Armbrust- und Bogenschützen, doch diese begannen sich bereits auf der Mauerkrone zu postieren. Ihre direkten Widersacher, die englischen Söldner des Kaisers mit den auffälligen Langbögen über den Schultern, marschierten gerade aus dem Feldlager heraus.
Etwa auf der Mitte der Strecke zwischen Lager und Stadtmauer war die Grenze, bis zu welcher die Geschosse der Einwohner von Crema reichten. Hier standen die kaiserlichen Steinschleudern, umringt von ihren Bedienmannschaften. Die hellen Holzbalken mit den Verschnürungen aus Seilen und dem in den Himmel ragenden Hebelarm erinnerten sie an die Baugerüste daheim in Mönkelare. Zentnerschwere Steine waren von Ochsenfuhrwerken herangekarrt und abgeladen worden. Gleich daneben machte die Zugmannschaft mit dem Turm halt.
»Was haben sie vor?«, fragte Judith.
Silas hob die Schultern. »Der Turm ist noch nicht gut geschützt. Ich sehe lediglich einige Lederbahnen gegen Brandpfeile und nur wenige Reisigfaschinen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Kaiser seine Krieger in dieser Höllenmaschine dem feindlichen Steinhagel aussetzen will.«
»Der Pfalzgraf Konrad sagte gestern Abend etwas von einer Idee, die Faschinen unnötig mache. Was kann das sein?«
»Ich weiß es nicht.«
Eine Weile beobachteten sie still das Tun der Menschen auf beiden Seiten, eine Geschäftigkeit, die nur darauf ausgerichtet war, Männer zu töten oder zu verletzen, Männer, deren Frauen und Kinder im Moment noch um ihr Leben beteten.
»Ihr wolltet mir von der Schwangerschaft der Königin erzählen.«
»Oh.« Judith sah sich um. Sie waren so allein wie selten in den letzten Monaten. Diese Gelegenheit würde so schnell nicht wiederkehren. Stockend berichtete sie, was sie im Birkenwäldchen gesehen hatte. Es tat so gut, dieses riskante Wissen endlich mit jemandem zu teilen. Leise regte sich ihr schlechtes Gewissen, ihn damit in Gefahr zu bringen.
Silas nickte nur, als sie endlich schwieg. Er wirkte nicht erstaunt. »Also kein medizinisches Wunder«, sagte er lapidar.
»Nein. Die Nonne vom Ruppertsberg hatte ihr übrigens gutes Essen und regelmäßigen Beischlaf verordnet.«
»Nun ja«, murmelte er, »daran hat sie sich anscheinend gehalten.«
Sie grinste. »Allerdings … das Kind könnte trotzdem vom Kaiser sein.«
»Ja.
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