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Das Geheimnis der Äbtissin

Das Geheimnis der Äbtissin

Titel: Das Geheimnis der Äbtissin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Marie Jakob
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fühlte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Unsanft riss sie die Stute herum und galoppierte den Hügel hinab. Nawar nahm begeistert die Verfolgung auf.
    Doch dem Geräusch des Jammerns und Klagens konnte sie nicht entkommen. Die Zelte für die Verwundeten standen am Ostrand des Lagers, dicht am Schlachtfeld. Während sie Verbände zurechtlegte und die Hilfskräfte anwies, Wasser zum Kochen zu bringen, hörte sie das dumpfe Knallen, wenn sich die gespannten Balken lösten, und kurz darauf die Einschläge. Sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie der Turm mit seiner zappelnden Vorderfront immer näher an die Katapulte herangeschoben wurde, wo ebenfalls Steine, größer als Ochsenköpfe, auf ihren Abschuss warteten. Sie hatte Verletzungen gesehen, die diese Geschosse Rittern in voller Rüstung beigebracht hatten. Quetschungen des Brustkorbs, Rippen, die die Lungen durchstochen hatten, eingedrückte Schädel, in denen noch das Helmvisier steckte, zerschmetterte Knochen. Und diese Gefangenen trugen nur ihre jämmerlichen Lumpen.
    »Werden sie auf ihre eigenen Verwandten schießen?«, fragte sie, als Silas neben sie trat, um die Leisten für die Knochenbrüche zu sortieren.
    »Sie müssen. In der einen Waagschale liegen die Geiseln, deren Leben vielleicht sowieso verwirkt ist. In der anderen liegt die ganze Stadt.«
    »Aber diese Stadt wird seit fünf Monden belagert. Wie können sie nur so lange durchhalten?«
    »Sie haben Hilfe von außen. Mailand ist sehr daran interessiert, dass Crema aushält. Das lenkt das Heer von ihrer eigenen Stadt ab.«
    Vor dem Zelt rief jemand. Sie brachten die ersten Verwundeten. Froh über diese Ablenkung, straffte sie die Schultern und wies die Träger ein. Die früh Verletzten hatten meist weniger gefährliche Wunden durch Pfeilschüsse oder Armbrustbolzen, weil die Entfernung zwischen den feindlichen Parteien noch relativ groß war. Sie trugen einen Ritter herein, der unglücklicherweise vom Belagerungsturm gestürzt war. Der Mann hatte sicherlich mehrere Knochenbrüche und musste zuerst mit Hilfe der Träger vorsichtig aus der Rüstung geschält werden. Diese Prozedur war sehr schmerzhaft, und der Mann stöhnte laut.
    »Ihr wart mit auf dem Turm?«, versuchte Judith ihn abzulenken, während einer der Helfer an der Beinschiene zerrte.
    »Ja …«, presste der Mann durch die Zähne.
    »Schießen die Bewohner von Crema die Katapulte ab?«
    »Bisher haben sie gezögert. Es gab Rangeleien auf der Mauer. Es sah so aus, als würden die Frauen es verhindern wollen. Ihr habt sie sicher schreien hören.«
    Jetzt erst fiel Judith auf, dass die Hintergrundgeräusche sich verändert hatten. Das durchdringende Gekreisch war den vielfältigen Tönen einer beginnenden Schlacht gewichen. Hufe trommelten auf dem nassen Boden, Schlachtrosse wieherten kampfeslustig, Männer feuerten sich mit Sprechchören gegenseitig an oder schrien Kommandos und Parolen. Dazwischen hörte sie rauhe Flüche und Schmerzensschreie. Das Gejammer der Gefangenen bildete wie eine monotone Melodie den Unterton in diesem Konzert. In diesem Moment kamen erneut das Knarren von Holz und ein leises Donnern hinzu. Kurz darauf zuckte sie zusammen, als sich ein lautes krachendes Bersten wie Echos in den Bergen mehrfach wiederholte, allerdings ohne leiser zu werden. Triumphierendes Gebrüll aus größerer Entfernung folgte. Schrille Schmerzenslaute bestimmten die Tonfolge des grausamen Lieds.
    »
Das
waren die Katapulte«, ächzte der Verwundete.
    Sie schloss für einen Moment die Augen. Lieber Gott, warum? Die Glocken der Stadt begannen erneut zu läuten.
    »Judith, die Beinschienen!«, mahnte Silas.
    In den nächsten Stunden trugen Trossknechte und Knappen Mann für Mann herein. Es gab ununterbrochen zu tun. Gegen Mittag sprach einer der Träger sie direkt an. »Herrin, ich habe den Herzog gebracht. Würdet Ihr nach ihm sehen?«
    Judith nickte geistesabwesend. Sie hatte gerade eine komplizierte Pfeilwunde genäht und verbunden. »Ja. Sicher. Bring ihn rein.«
    »Herrin!« Seine Stimme klang drängend.
    Sie blickte auf. Er rang die Hände vor der Brust, und sie sah, dass er rechts nur noch den Daumen besaß. Vier Finger fehlten … Sie musterte sein Gesicht. »Bist du etwa der Pferdeknecht, der …?«
    Er nickte schnell. »Ja. Ihr habt meine Hand gerettet. Seht nur, alles gut verheilt, und mit dem Daumen kann ich sogar greifen.« Er fasste nach den Werkzeugen, die vor ihr auf dem Tisch aufgereiht lagen.
    Hastig wehrte sie ab. »Das freut

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