Das Geheimnis der Apothekerin
das Sie bestellt hatten … Sie wissen ganz genau, dass es berechtigt war, Ihnen die Arznei nicht zu geben.«
»Das sagen Sie.«
»Ich habe die Patientenakte, die es beweist.«
»Und ich habe das Gesetz auf meiner Seite. Und die höchste Prüfinstanz der eigenen Berufsgesellschaft dieses aufgeblasenen Haswell.«
»Sie haben vielleicht den Buchstaben des Gesetzes auf Ihrer Seite, Sir, aber nicht den Geist. Steht denn nicht unser Hippokratischer Eid an höchster Stelle? Ein Leben zu retten muss unsere vornehmste Aufgabe sein, nicht das Gesetz einzuhalten.«
»Das ist eine sehr radikale politische Ansicht, junger Mann.«
»Sie haben sie extra deswegen kommen lassen, oder? Eine Reise nach Bath, dass ich nicht lache! Die beiden haben sich ganz schön weit aus ihrem Zuständigkeitsbereich entfernt, meinen Sie nicht?«
»Wer pocht jetzt auf den Buchstaben des Gesetzes?«
»Es ist nicht richtig. In diesem Fall haben die Haswells nichts Falsches getan.«
»Sie meinen, sie hat nichts Falsches getan? Mir ist Ihr Interesse an dem Haswell-Mädchen nicht entgangen. Aber vielleicht ist mir ja ein neues Gesetz entgangen, das es Frauen erlaubt, Diagnosen zu stellen und Medikamente auszugeben?«
Adam wandte sich zur Tür.
»Hiergeblieben, Graves. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Mischen Sie sich da nicht ein. Wenn doch, erwartet Sie eine trostlose Zukunft, das kann ich Ihnen versprechen.«
Adam Graves griff nach der Klinke und spürte ihre kalte metallische Realität in seiner Hand.
Lilly öffnete die Tür von Mr Shuttleworths Apotheke und streckte den Kopf hinein. Der Wundarzt saß allein über seinen Büchern.
»Mr Shuttleworth, wissen Sie, wo Francis stecken könnte? Ich habe ihn seit zwei Tagen nicht gesehen.«
Er sah sie überrascht an. »Wissen Sie es denn nicht?«
Sie war augenblicklich in Hochspannung. »Was wissen?«
»Mr Baylor hat uns verlassen. Er hat bei mir gekündigt.«
Sie war fassungslos. »Aber warum denn?«
»Er hat andere Pläne. Hat er Ihnen denn nichts davon erzählt?«
»Er hat mir gar nichts erzählt.«
»Nun …« Mr Shuttleworth richtete sich verlegen seine Krawatte. »Dann weiß ich nicht, ob ich es Ihnen sagen darf.«
»Lilly!«
Charlie kam die Milk Lane entlanggelaufen und fuchtelte mit den Armen wie eine Windmühle. »Francis geht weg.« Als er sie erreicht hatte, beugte er sich erst einmal vornüber und rang nach Luft.
»Ich hab ihn grade gesehen … er ist mit seiner Reisetasche zum Kanal gegangen.«
Lilly starrte ihren Bruder an, nahm jedoch weder ihn noch ihre Umgebung richtig wahr.
Charlie richtete sich auf. »Weißt du noch, wie er hergekommen ist? Und Vaters Schuhe vollgekotzt hat?«
Lilly rannte.
Atemlos, mit brennenden Lungen – teils vom Rennen, teils vom Ansturm ihrer Gefühle – erreichte sie den Kanal. Und da war Francis. Er schritt gerade hinunter zum Heck des Kanalbootes seines Cousins, das in der Nähe der Honeystreet Bridge festgemacht hatte.
»Francis!«
Als er sie sah, ließ er seinen Koffer und seinen Hut auf Deck liegen und kletterte noch einmal das Ufer hinauf, wo sie stand und noch immer nach Luft rang.
»Wo gehst du hin?«, fragte sie.
»Nach London.«
»Nach London?« Sie sah ihn verwirrt an. Ihre Gedanken purzelten wild durcheinander. Hatte er es ihr gesagt und sie hatte es vergessen? Fühlte es sich so an, wenn man etwas vergaß? Diese Orientierungslosigkeit, die Verwirrung, die irrationale Angst?
Er fuhr fort: »Jetzt bin ich dran, etwas von der Welt zu sehen. Etwas zu lernen. Voranzukommen.«
»Ohne Lebewohl zu sagen?«
Er nickte verlegen.
»Aber ich wollte mit dir reden, mich bei dir bedanken.« Sie schluckte die Welle der Angst hinunter, die in ihr aufstieg. »Wie lange wirst du fort sein?«
Er lächelte. »Keine Sorge, Lilly. Du hast mich nicht zum letzten Mal gesehen.«
Sie dachte an das Versprechen, das ihre Mutter Charlie gegeben hatte. Sie dachte an Mr Lippert, den Apotheker aus Little Bedwyn, der in London geblieben war, wo die Zukunft, die sich ihm eröffnete, so verheißungsvoll schien, dass er dafür das Dorfleben aufgab. »Das kannst du nicht wissen, Francis.«
Er neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie eindringlich.
Sie holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu sprechen. »Wenn du entschlossen bist, nach London zu gehen, dann gebe ich dir den Namen eines sehr netten Apothekers, den ich dort kennengelernt habe.«
»Ein Apotheker? Auf einem deiner Londoner Bälle?«
»Nein. In Bucklersbury, wo jeder zweite Laden
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