Das Geheimnis der Apothekerin
»Ich werde ins Guy's Hospital zurückkehren. Mir wurde dort eine Stelle in der Lehre angeboten, die ich abgelehnt habe. Jetzt werde ich sie annehmen. Ich werde bestimmt zufrieden sein. In der Theorie habe ich immer geglänzt.« Er lächelte tapfer. »Nur im wirklichen Leben bin ich ein Versager.«
Er verbeugte sich und ging. Sie blickte ihm nach. Es tat ihr unendlich leid, dass sein Aufenthalt hier eine einzige Enttäuschung für ihn gewesen war, doch sie wusste, dass es nicht in ihrer Macht lag, ihn glücklich zu machen. Oder innerlich heil.
Die Säuberungsaktion im Laden wurde fortgesetzt. Angesichts des Gesundheitszustands ihres Vaters und ihrer wackligen Finanzlage konnten sie sich nicht länger vormachen, dass sie die Apotheke wieder zu ihrer ehemaligen Größe führen könnten. Der Absturz war zu tief gewesen. Obwohl ihr Vater sichtlich trauerte, war er fest entschlossen, die Haswell-Apotheke zu schließen. Ja, vielleicht war er im Grunde seines Herzens sogar erleichtert. Lilly selbst empfand eine Vielzahl verworrener Emotionen.
Es dauerte Tage, die Trümmer zu sortieren, auszusondern, was noch brauchbar war, die verschütteten Pulver zusammenzufegen, die Tinkturen und Säfte, die über den ganzen Boden verteilt waren, aufzuwischen und Ordnung in das Durcheinander zu bringen, das einmal das Behandlungszimmer ihres Vaters gewesen war. Ihr Vater war noch nie besonders ordentlich gewesen. Sein Schreibtisch und der Schrank waren stets mit Papieren vollgestopft, doch jetzt bedeckten diese Papiere sogar den Boden oder waren zwischen Schrank und Wand oder zwischen Schreibtisch und Fenster gerutscht. Lilly strich glatt und sortierte und las und warf weg, bis der Papierkorb überquoll . Wenn der Büttel schon unsere Sachen verbrennen musste , dachte Lilly bitter, warum konnte er das hier dann nicht gleich mitverbrennen? Auf jeden Fall war diese Katastrophe das Einzige, was sie hatte bewegen können, hier einmal richtig aufzuräumen.
Charlies Kater, Jolly, war während des Feuers aus dem Haus geflüchtet und nicht wieder aufzufinden. Charlie war zwar sehr traurig darüber, doch er tat sein Bestes, ihnen zu helfen, und teilte seine Zeit zwischen Marlow House und der Apotheke auf. Im Augenblick wischte er den Boden vor dem großen Schaufenster, dessen Auslage jetzt leer war, bis auf das gerettete Apothekergefäß.
Lilly, die noch immer im Behandlungszimmer beschäftigt war, streckte die Hand aus und zog an einer Papierecke, die neckisch unter dem Schreibtisch hervorlugte – als strecke ein Kind ihr die Zunge heraus.
»Charlie, kannst du mal kommen?«, rief sie.
Charlie war vielleicht nicht klug, aber er war sehr stark. Als er kam, fragte sie: »Kannst du mir bitte kurz die eine Ecke des Schreibtisches anheben? Vaters Papiere sind überall verteilt und wie ich mich kenne, übersehe ich das Einzige, das wichtig wäre.«
Charlie hob den schweren Eichenschreibtisch hoch und Lilly zog das Papier hervor. »Gut gemacht, Charlie. Danke.«
Er grinste bloß und machte sich wieder an seine Arbeit.
Sie wollte den Brief auf die Stapel legen, die noch sortiert werden mussten, als ihr die Handschrift ins Auge fiel. Das war keine Rechnung und auch keine Apothekerwerbung. Sie spürte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie kannte diese Handschrift. Natürlich kannte sie sie. Es war die Handschrift ihrer Mutter.
Zitternd setzte sie sich an den Schreibtisch ihres Vaters und betrachtete den Brief. Wann hatte ihre Mutter ihn geschrieben? Das Papier war an den Rändern bereits vergilbt und wies tiefe Markierungen auf wie zum Beispiel einen dreieckigen Blutegelbiss. Es wirkte, als habe es schon sehr lange Zeit unter dem Schreibtisch gelegen.
Der Adressat war Charles Haswell, aber es war keine Absenderadresse angegeben. Die Briefmarken waren verblasst und nicht mehr zu erkennen.
Wo hatte sie den Brief aufgegeben? An einem exotischen Ort, wie Lilly sich immer vorgestellt hatte? In London? Vielleicht sogar auf einem nahe gelegenen Gut, wo sie Arbeit gefunden hatte? Lilly fragte sich, ob ihr Vater den Brief gelesen und all die Jahre absichtlich vor ihr verborgen hatte. Sie fuhr mit dem Fingernagel unter den Falz; das gelbe Wachssiegel hielt noch. Es war gut möglich, dass das Schreiben in dem Durcheinander des Büros ihres Vaters verloren gegangen war und dass es niemand je gelesen hatte. Vielleicht war das Siegel aber auch geöffnet und später durch den Druck des
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