Das Geheimnis der Burggräfin - Roman
moritur … – Darauf starb der König, ein tapferer mächtiger Mann, im Krieg wie im Frieden hervorragend, freigebig, mild und mit allen Vorzügen ausgestattet; begraben wurde er unter dem Jammer und den Tränen aller Franken in seiner Stadt Weilburg.«
Bandolf runzelte die Stirn und las den Abschnitt noch einmal. Irgendetwas war in diesem Text, das ihn stutzen ließ, doch was es war, konnte er nicht benennen. Es war wie das schmerzhafte Zupfen im Kiefer, das an einen fauligen Zahn gemahnte, ohne dass man sagen konnte, um welchen Zahn es sich handelte. Ein drittes Mal beugte
er sich über den Abschnitt, las sorgfältig Wort für Wort, doch dann schüttelte er den Kopf. Er musste sich irren. Der fränkische König Konrad hatte in der Tat den Sachsenherzog Heinrich zu seinem Nachfolger designiert, daran war nichts verkehrt.
Und welchen Aufschluss sollte ihm just dieser Abschnitt geben? Das Ereignis, das Widukind beschrieb, lag hundertfünfzig Jahre zurück. Keiner der Beteiligten lebte mehr.
Ob der alte Jehuda einen anderen Abschnitt gemeint hatte? Womöglich hatte auch der Bote den falschen genannt? Bandolf blätterte weiter, dann wieder zurück. Die nächsten Abschnitte beschrieben die Krönung Heinrichs und seine Taten als König, die Abschnitte zuvor seine Taten als Herzog. Auch hier fand Bandolf nichts, das er mit dem Hier und Heute oder gar mit der Ermordung der beiden Mönche in irgendeinen Zusammenhang zu setzen vermochte. Doch das bohrende Gefühl, etwas übersehen zu haben, blieb.
Als er sich schließlich müde die Augen rieb, das Buch zuklappte und es sorgsam in seiner Truhe verstaute, war er dem Rätsel noch um keinen Deut nähergekommen. Die Hörigen hatten sich bereits um das Herdfeuer niedergelegt, und selbst Bruder Fridegist, der den ganzen Abend mit offenkundiger Neugier um Bandolf herumgeschlichen war, hatte sich endlich schlafen gelegt.
Ein erster Schimmer der Morgendämmerung sickerte durch die Schießscharte in die Waffenkammer, als Bandolf plötzlich aus dem Schlaf hochschreckte.
»Mauritius«, murmelte er undeutlich. Steif wie ein Stock saß er aufrecht in seiner Bettstatt, während er zu erkunden versuchte, welcher der flüchtigen Gedanken, die
ihm wie aufgestörte Wespen durch den Kopf schossen, ihn aus seinen Träumen gerissen hatte.
Sankt Mauritius … Der Sachsenherzog Heinrich, nein, Heinrich, der König! König Heinrich I. … Sankt Mauritius … Mauritius …
»Allmächtiger!« stieß er aus, schlug die Felle zurück und sprang auf. Hastig griff er nach seinen Beinlingen. Ohne sich die Mühe zu machen, auch noch sein Hemd überzustreifen, stolperte er barfuß die finstere Treppe zur Halle hinunter. Während er ungeduldig einen Kienspan in das zur Hälfte abgebrannte Herdfeuer hielt, einige Fackeln damit entzündete und schließlich das Geschenk des alten Juden aus der Truhe holte, wiederholte er die Worte im Geist wie eine Litanei.
Einer der Knechte grunzte, und Ingild fuhr erschrocken hoch, als das schwere Buch den nicht gänzlich ruhigen Händen des Burggrafen entglitt und mit einem dumpfen Knall auf die Tischplatte fiel.
»Ist etwas geschehen?«, fragte die Magd schlaftrunken.
»Nein, schlaf weiter«, brummte Bandolf.
Mit einem Schnauben legte sich die Magd wieder nieder und kehrte ihm den Rücken zu.
Es dauerte ein Weilchen, bis Bandolf den fünfundzwanzigsten Abschnitt gefunden hatte. Angespannt und jede Zeile mit dem Finger nachfahrend, las er den Abschnitt noch einmal, bis er gefunden hatte, was er suchte:
» Sumptis igitur his insigniis, lancea sacra, armillis aureis cum clamide et veterum gladio regum ac diademate, ito ad Henricum … Deshalb nimm diese Abzeichen, die Heilige Lanze, die goldenen Armspangen mit dem Mantel, das Schwert und die Krone der alten Könige, gehe zu Heinrich …« ließ Widukind den König Konrad zu seinem Bruder sagen.
» Lancea sacra «, murmelte der Burggraf.
Das war es, was in diesem Abschnitt nicht stimmte. Hier hatte sich Widukind von Corvey geirrt, denn König Konrad hatte die Heilige Lanze nie besessen. Sie war im Besitz des Burgundenkönigs Rudolf III. gewesen, und der Sachse Heinrich hatte sie dazumal erst lange nach seiner Krönung zum König erworben. Man sagte sogar, König Rudolf habe sich von diesem machtvollen Kleinod nicht trennen mögen, verlieh die Lanze ihrem Träger doch Unbesiegbarkeit. Aber König Heinrich habe ihm gedroht, in Burgund einzufallen und das Land in Schutt und Asche zu legen, wenn Rudolf ihm die
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